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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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die Sonne erinnern konnte, wie sie aussah und wie der Himmel war, als sie vier Jahre alt war und in Ohio wohnte. Die anderen hatten ihr ganzes Leben lang auf der Venus gewohnt und waren erst zwei Jahre alt gewesen, als die Sonne zum letzten Mal hervorkam, und sie hatten ihre Farbe und die Hitze längst vergessen. Aber Margot erinnerte sich noch an die Sonne.
    »Sie ist wie ein Pfennigstück«, sagte sie einmal mit geschlossenen Augen.
    »Nein, ist sie nicht!« riefen die anderen Kinder.
    »Sie ist wie ein Feuer im Ofen«, sagte sie.
    »Du lügst, du kannst dich nicht erinnern«, sagten die anderen.
    Aber sie erinnerte sich noch und stand still abseits und betrachtete die Fenster mit den Regenspuren. Einmal, vor einem Monat, hatte sie sich geweigert, sich in den Duschräumen der Schule zu duschen, sie hatte sich die Hände an die Ohren und über den Kopf gehalten und geschrien, das Wasser dürfe ihren Kopf nicht berühren. Von da an spürte sie undeutlich, daß sie anders war und daß die anderen es wußten und sie deswegen mieden.
    Man munkelte, daß ihr Vater und ihre Mutter sie im nächsten Jahr zur Erde mitnehmen wollten; ihr schien das ungeheuer wichtig, obwohl es ihre Familie Tausende von Dollars kosten würde. Aus all diesen Gründen haßten die anderen Kinder sie um so mehr. Sie haßten ihr blasses, schneeweißes Gesicht, ihr abwartendes Schweigen, ihre Magerkeit, sie haßten sie wegen ihrer möglichen Reise zur Erde.
    »Hau ab!« Der Junge stieß sie noch einmal an. »Worauf wartest du eigentlich?«
    Da drehte sie sich zum ersten Mal um und sah ihn an. Und das, worauf sie wartete, stand in ihren Augen geschrieben.
    »Steh nicht hier herum und warte!« rief der Junge böse. »Es gibt nichts zu sehen.«
    Ihre Lippen bewegten sich.
    »Nichts!« schrie er. »Es war alles nur Spaß, stimmt’s?« Er wandte sich nach den anderen um. »Heute passiert nichts, stimmt’s?«
    Sie zwinkerten ihm alle verständnisinnig zu, lachten und schüttelten die Köpfe. »Nichts, gar nichts!«
    »Oh, aber dies ist doch der Tag«, flüsterte Margot mit hilflosem Blick, »den die Wissenschaftler vorausgesagt haben, und sie sagen, sie wüßten, daß die Sonne…«
    »Alles nur Spaß!« wiederholte der Junge und packte sie grob.
    »He, wir wollen sie in einen Schrank einsperren, bevor die Lehrerin kommt!«
    »Nein«, sagte Margot zurückweichend.
    Sie stürzten auf sie los, holten sie ein und schoben sie, obwohl sie sich wehrte, bettelte und weinte, in einen Tunnel, in einen Raum und in einen Schrank, schlugen die Tür zu und schlossen ab. Sie blieben stehen und sahen, wie die Tür zitterte, weil das Mädchen mit den Fäusten daran schlug und sich dagegen warf. Sie hörten ihre erstickten Schreie. Dann drehten sie sich lächelnd um und gingen hinaus und den Tunnel hinunter, als eben die Lehrerin kam.
    »Fertig, Kinder?« Sie blickte auf ihre Uhr.
    »Ja«, sagten alle.
    »Sind alle da?«
    »Ja!«
    Der Regen fiel noch langsamer.
    Sie drängten sich vor der riesigen Tür.
    Der Regen hörte auf.
    Es war, als funktionierte mitten in einem Film über eine Lawine, einen Tornado, einen Wirbelsturm oder einen Vulkanausbruch plötzlich der Ton nicht mehr, so daß alle Geräusche zuerst gedämpft wurden und schließlich aussetzten, Windstöße, Donner und Echo, und als hätte man den Film aus dem Projektionsapparat herausgerissen und statt dessen das Bild einer friedlichen, tropischen Landschaft hineingeschoben, das sich nicht bewegte und nicht zitterte. Die Welt stand still. Die Stille war so ungeheuer und unglaublich, daß man das Gefühl hatte, die Ohren seien verstopft oder man habe ganz das Gehör verloren. Die Kinder traten zurück. Die Tür öffnete sich, und der Geruch der schweigenden, wartenden Welt drang zu ihnen.
    Die Sonne kam hervor.
    Sie war sehr groß und wie flammende Bronze. Und der Himmel um sie war ein leuchtendes Ziegelblau. Und der Dschungel glühte im Sonnenlicht, als die Kinder, wie von einem Zauber befreit, schreiend in den Frühling hinausstürmten.
    »Lauft nicht zu weit fort«, rief ihnen die Lehrerin nach, »ihr wißt, daß ihr nur zwei Stunden habt, und ihr wollt euch doch nicht vom Regen überraschen lassen.«
    Aber sie liefen weiter, die Gesichter zum Himmel emporgereckt, und fühlten den warmen Schein der Sonne auf den Wangen; sie zogen ihre Jacken aus und ließen sich die Sonne auf die Arme brennen.
    »Oh, das ist noch schöner als die Sonnenlampen, wie?«
    »Viel, viel schöner!«
    Sie hörten auf zu laufen und

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