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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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standen im großen Dschungel, der die Venus bedeckte, der unaufhörlich wuchs, so ungestüm, daß man ihn wachsen sah. Er war ein Gespinst von Tintenfischen, aus dem in diesem kurzen Frühling mächtige Arme fleischähnlichen Unkrauts schwankend aufschossen und sich entfalteten. Dieser Dschungel war in den vielen sonnenleeren Jahren kautschukfarben und aschfahl geworden wie Steine, weißer Käse oder Tinte, wie der Mond.
    Die Kinder legten sich lachend auf die Dschungelmatratze und hörten sie unter sich knirschen und quietschen, elastisch und lebendig. Sie liefen unter den Bäumen hin, glitten aus, fielen und schubsten einander und spielten Verstecken und Greifen, aber meist sahen sie blinzelnd zur Sonne hinauf, bis ihnen Tränen über das Gesicht strömten; sie streckten ihre Hände zu diesem Gelb und dieser erstaunlichen Bläue empor, sie atmeten die frische Luft und lauschten der Stille, die sie wie ein segensreiches, lautloses Meer umfing. Sie schauten alles an und genossen alles. Dann liefen sie wie aus ihren Höhlen entflohene Tiere schreiend in Kreisen herum. Sie liefen eine Stunde lang unentwegt.
    Und dann…
    Mitten im Laufen jammerte plötzlich eines der Mädchen laut.
    Alle blieben stehen.
    Das Mädchen stand und streckte seine Hände aus.
    »Oh, seht, seht her«, sagte sie zitternd.
    Sie kamen langsam heran und betrachteten die offene Handfläche.
    In der Mitte lag, gewölbt und groß, ein einziger Regentropfen.
    Sie sah ihn an und begann zu weinen.
    Die Kinder blickten zum Himmel auf.
    »Oh, oh.«
    Ein paar kalte Tropfen fielen auf ihre Nasen und Wangen und Münder. Die Sonne verblaßte hinter Nebelschleiern. Kühler Wind kam auf. Sie drehten sich um und gingen zurück ins unterirdische Haus; ihre Arme hingen herab, und ihr Lächeln erlosch.
    Ein Donnerschlag ließ sie zusammenfahren, und sie purzelten wie Blätter vor einem Wirbelsturm übereinander und rannten fort. Blitze zuckten, zehn Meilen, fünf Meilen, eine Meile, eine halbe Meile weiter. Der Himmel verwandelte sich in Nachtschwärze.
    Sie standen noch einen Augenblick am Eingang des Tunnels, bis es heftig goß. Dann schlossen sie die Tür und hörten das mächtige Geräusch des Regens, der tonnenweise und lawinengleich überall und unablässig herabstürzte.
    »Wird es nun wieder sieben Jahre dauern?«
    »Ja, sieben.«
    Da schrie eines von den Kindern auf.
    »Margot!«
    »Was?«
    »Sie ist noch immer im Schrank, in den wir sie eingesperrt haben.«
    »Margot.«
    Sie standen, als habe sie jemand wie Pfähle in die Erde getrieben. Sie sahen einander an und sahen fort. Sie blickten hinaus auf die Welt, in der es jetzt immerfort regnete. Sie konnten einander nicht mehr ansehen. Ihre Gesichter waren blaß und feierlich. Sie blickten mit gesenkten Köpfen auf ihre Hände und Füße.
    »Margot.«
    Eines der Mädchen sagte: »Nun…?«
    Niemand rührte sich.
    »Los«, flüsterte das Mädchen.
    Sie gingen langsam den Flur entlang, im Geräusch kalten Regens. Sie traten im Brausen des Sturms und des Donners ins Zimmer; schreckliche Blitze zuckten über ihre Gesichter hin. Sie gingen langsam zum Schrank und blieben davor stehen.
    Hinter dem Schrank war nur Stille.
    Sie schlossen noch langsamer die Tür auf und ließen Margot heraus.

 
Das Geschenk
     
     
     
    Es war ein Tag vor Weihnachten, und noch während die drei zum Raumschiff-Flughafen fuhren, machten Mutter und Vater sich Gedanken. Es war das erste Mal, daß ihr kleiner Sohn in den Weltraum flog, das erste Mal, daß er überhaupt in ein Raumschiff stieg, und sie wollten, daß alles vollkommen war. Als sie am Zolltisch das Geschenk für ihn zurücklassen mußten, das nur wenige Gramm schwerer war, als die vorschriftsmäßige Gewichtsgrenze erlaubte, und auch den kleinen Baum mit den weißen Kerzen, fühlten sie sich um die ganze Weihnachtsfreude und um die eigene Liebe betrogen.
    Der Junge erwartete sie im Abfertigungsraum. Während sie nach dem erfolglosen Zusammenstoß mit den interplanetaren Beamten auf ihn zugingen, flüsterten sie miteinander.
    »Was sollen wir tun?«
    »Nichts. Nichts. Was können wir tun?«
    »Diese dämlichen Vorschriften!«
    »Und er hatte sich so sehr einen Weihnachtsbaum gewünscht!«
    Die Sirene heulte auf, und die Leute drängten sich in das Marsraumschiff. Mutter und Vater gingen schweigend am Schluß, ihren kleinen blassen Sohn zwischen sich.
    »Ich werde mir schon etwas einfallen lassen«, sagte der Vater.
    »Was…?« fragte der Junge.
    Das Raumschiff startete,

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