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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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stürzte auf den Körper zu.
    »Kelly!« Heber Finn schwang sich über die Bar. »Raus auf die Straße! Vorsichtig mit dem Opfer. Immer langsam! Joe, lauf und hole den Doktor!«
    »Wartet!« sagte eine ruhige Stimme.
    Aus dem behaglichen Nebenzimmer, wie geschaffen für einen grübelnden Philosophen, blickte ein dunkler Mann auf die Leute.
    »Doc!« schrie Heber Finn. »Da sind Sie ja!«
    Der Arzt und die Männer drängten in die Nacht hinaus.
    »Zusammenstoß…« Die Lippen des am Boden liegenden Mannes zuckten.
    »Vorsichtig, Jungs.« Heber Finn und zwei andere hoben das Opfer langsam auf die Bar. Es lag schön wie der Tod auf dem hübschen, eingelegten Holz mit dem prismatischen Spiegel dahinter, der ein doppeltes Unglück zum gleichen Preis wie für eines vorspiegelte.
    Draußen auf der Treppe blieb die Gruppe erschrocken stehen, als habe ein Ozean Irland in Dunkel getaucht und breitete sich nun um sie aus. Fünfzehn Meter hohe Nebelsturzwellen und Brecher löschten den Mond und die Sterne aus. Blinzelnd und fluchend sprangen die Männer hinaus und verschwanden in den Tiefen.
    Hinter ihnen im erleuchteten Türrahmen stand ein junger Mann. Er war für einen Iren weder rot noch bleich genug im Gesicht und auch nicht dunkel oder hell genug im Geist und mußte demnach Amerikaner sein. War er auch. Steht das einmal fest, so folgt daraus, daß er fürchtete, sich in etwas einzumischen, das offenbar ein Ritus des Dorfes war. Seit seiner Ankunft in Irland konnte er das Gefühl nicht loswerden, daß er die ganze Zeit mitten auf der Bühne im Abbey Theatre lebte. Da er jetzt jedoch seine Rolle nicht kannte, konnte er den davonstürmenden Männern nur nachschauen.
    »Aber«, wandte er schüchtern ein, »ich habe gar keine Autos auf der Straße gehört.«
    »Nein, das haben Sie nicht!« sagte ein alter Mann beinahe stolz. Die Arthritis hielt ihn auf der obersten Stufe zurück, wo er sich mühsam aufrecht hielt und in die weißen Flutwogen hineinschrie, die seine Freunde verschluckt hatten. »Geht an die Kreuzung, Jungs! Da passiert es meistens!«
    »Die Kreuzung!« Fern und nah hörte man Schritte.
    »Und von einem Zusammenstoß habe ich auch nichts gehört«, sagte der Amerikaner.
    Der alte Mann schnaubte verächtlich. »In Tumulten und lautem Krach sind wir nicht groß. Aber schon sehen Sie den Zusammenstoß, wenn Sie hinausgehen. Gehen Sie, aber laufen Sie nicht! Heute nacht ist der Teufel selbst unterwegs. Wenn Sie blind drauflos rennen, könnten Sie da drüben mit Kelly zusammenprallen, der rennt nämlich gern, bloß um seine Lungen auszupressen. Oder Sie stoßen auf Feeney, und der ist zu besoffen, um noch eine Straße zu sehen, und es ist ihm egal, was sich darauf bewegt! Haben Sie eine Fackel oder eine Taschenlampe? Sehen können Sie sowieso nichts, aber nehmen Sie sie lieber mit. Gehen Sie jetzt, verstanden?«
    Der Amerikaner tappte durch den Nebel zu seinem Auto, fand seine Taschenlampe und orientierte sich, eingetaucht in die Nacht hinter Heber Finns Kneipe, an den schweren Tritten und dem Stimmengewirr weiter vorn. Hundert Meter vor ihm in der Ewigkeit näherten sich die Männer mit dumpfem Flüstern: »Ruhig jetzt!« – »Ach, dieser elende Nebel!« – »Halt ihn fest, schüttel ihn nicht so!«
    Der Amerikaner wurde von der dampfenden Männergruppe zur Seite geschleudert, die plötzlich aus dem Nebel auftauchte und über sich einen gekrümmten Gegenstand trug. Er bemerkte ein blutbeflecktes, bleiches Gesicht, dann schlug jemand seine Taschenlampe nieder.
    Der Katafalk steuerte, vom fernen, whiskyfarbenen Licht bei Heber Finn angezogen, auf diesen sicheren, vertrauten Hafen zu.
    Hinter ihm folgten undeutliche Gestalten und ein furchterregendes Geplapper.
    »Wer ist da?« rief der Amerikaner.
    »Wir mit den Vehikeln«, sagte jemand heiser. »Man könnte sagen, wir haben den Zusammenstoß.«
    Die Taschenlampe richtete sich auf sie. Der Amerikaner fuhr zusammen. Einen Augenblick später versagte die Batterie.
    Er hatte gerade noch zwei Dorfburschen erkannt, die leicht und ruhig die Straße entlangtrabten, zwei uralte, schwarze Fahrräder ohne Vorder- und Rücklichter unter den Arm geklemmt.
    »Was…?« fragte der Amerikaner.
    Aber die Burschen trotteten weiter und der Unfall mit ihnen.
    Der Nebel schloß sich wieder. Der Amerikaner stand verlassen auf der leeren Straße, die erloschene Taschenlampe in der Hand.
     
     
    Als er Heber Finns Tür öffnete, waren beide »Körper«, wie die Leute sagten, schon auf

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