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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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und sie wurden kopfüber in den dunklen Weltraum geschleudert.
    Das Raumschiff ließ Feuer zurück und die Erde, auf der man den 24. Dezember des Jahres 2052 schrieb; es schoß hinaus, dorthin, wo es keine Zeit gab, keinen Monat, kein Jahr, keine Stunde. Sie verschliefen den restlichen »Tag«. Um Mitternacht irdischer Zeit und nach den New Yorker Uhren wachte der Junge auf und sagte: »Ich möchte aus der Luke sehen.«
    Es gab nur oben auf dem nächsten Deck eine Luke, ein ziemlich großes »Fenster« mit einer Scheibe aus ungeheuer dickem Glas.
    »Jetzt noch nicht«, sagte der Vater. »Ich nehme dich später mit hinauf.«
    »Ich möchte sehen, wo wir sind und wohin wir fliegen.«
    »Ich möchte aber aus einem bestimmten Grund, daß du noch wartest«, sagte der Vater.
    Er hatte wach gelegen, sich von einer Seite auf die andere gedreht und an das zurückgelassene Geschenk gedacht, an das bevorstehende Weihnachtsfest, den verlorenen Baum mit den weißen Kerzen. Endlich, vor fünf Minuten, hatte er sich aufgerichtet und glaubte nun einen Plan gefunden zu haben. Er brauchte ihn nur auszuführen, damit die Reise wirklich schön wurde.
    »In genau einer Stunde ist Weihnachten, mein Sohn«, sagte der Vater.
    »Oh«, sagte die Mutter, entsetzt darüber, daß er das Fest erwähnte. Sie hatte gehofft, der Junge würde es vergessen.
    Das Gesicht des Jungen rötete sich wie im Fieber, und seine Lippen zitterten. »Ich weiß, ich weiß. Ich kriege doch ein Geschenk, nicht wahr? Bekomme ich einen Baum? Ihr habt mir versprochen…«
    »Ja, ja, du bekommst sogar noch mehr«, antwortete der Vater.
    »Aber…«, begann die Mutter.
    »Es ist mein Ernst«, sagte der Vater. »Du kannst dich darauf verlassen. All das und noch mehr, viel mehr. Entschuldigt mich jetzt. Ich komme gleich wieder.«
    Er ließ sie ungefähr zwanzig Minuten allein. Als er wiederkam, lächelte er. »Gleich ist es soweit.«
    »Darf ich deine Uhr halten?« fragte der Junge. Er bekam die Uhr und hielt sie in der Hand, während der Rest der Stunde in Feuer und Stille und unmerklicher Bewegung verstrich.
    »Jetzt ist Weihnachten! Weihnachten! Wo ist das Geschenk?«
    »Hierher«, sagte der Vater, faßte den Jungen bei der Schulter und führte ihn aus dem Raum, durch einen Flur und eine schräge Treppe hinauf; seine Frau kam nach.
    »Ich verstehe nicht«, sagte sie immer wieder.
    »Du wirst schon verstehen. Wir sind da«, sagte der Vater.
    Sie blieben vor der Tür einer großen Kabine stehen. Der Vater klopfte dreimal und dann zweimal, ein Signalzeichen. Die Tür öffnete sich, das Licht in der Kabine erlosch, und man hörte Stimmen flüstern.
    »Geh hinein, mein Sohn«, sagte der Vater.
    »Es ist so dunkel.«
    »Ich halte dich an der Hand. Komm, Mama.«
    Sie traten in den Raum, die Tür schloß sich hinter ihnen, und der Raum war wirklich sehr dunkel. Vor ihnen tauchte ein großes Glasauge auf, die Luke, ein Fenster, etwa einen Meter zwanzig hoch und einen Meter achtzig breit, durch das sie in den Weltraum hinausschauen konnten.
    Der Junge erschrak.
    Hinter ihm erschraken auch die Eltern, aber jetzt fingen in der dunklen Kabine ein paar Menschen an zu singen.
    »Fröhliche Weihnachten, mein Sohn«, sagte der Vater.
    Die Stimmen sangen die alten, vertrauten Weihnachtslieder. Der Junge ging langsam vorwärts und preßte dann sein Gesicht an das kalte Glas der Luke. Da stand er lange Zeit und schaute hinaus in den Weltraum, in die tiefe Nacht, in der zehn Milliarden hübsche weiße Kerzen brannten…

 
Der große Zusammenstoß vom letzten Montag
     
     
     
    Der Mann stolperte durch die weit aufgerissene Tür von Heber Finns Kneipe, als hätte ihn der Blitz getroffen. Sein taumelnder Schritt, sein Stöhnen, das Blut in seinem Gesicht, auf dem Mantel und den zerrissenen Hosen ließen alle Kunden an der Bar erstarren. Eine Weile hörte man nur, wie der weiche Schaum in den verzierten Krügen zischte, während die Leute sich umdrehten, einige mit bleichen, andere mit rosigen oder dickgeäderten, von roten Flechten durchzogenen Gesichtern. Alle blinzelten durch die Augenlider.
    Der Fremde schwankte in zerfetzten Kleidern, mit weit geöffneten Augen und zitterndem Mund. Die Trinkenden ballten die Fäuste. Na, schrien sie im stillen – nun los, Mann! Was ist passiert?
    Der Fremde lehnte sich vor.
    »Ein Zusammenstoß«, flüsterte er. »Ein Zusammenstoß auf der Straße.«
    Dann fiel er um, als hätte man ihm die Knie durchgesägt.
    »Ein Zusammenstoß.« Ein Dutzend Männer

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