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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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hatte die Tür erreicht und nickte. Hinter sich hörte er das eine Opfer, das behaglich im Stuhl saß, das Porterbier mit der Zunge im Mund herumschob, überlegte, sich bereit machte und seine Geschichte begann:
    »Also, ich bin aufm Weg nach Haus, so vergnügt, wie man sein kann, und segle in der Nähe der Kreuzung talwärts, als…«
    Draußen im Wagen, wo das andere Opfer des Zusammenstoßes leise stöhnend auf dem hinteren Sitz lag, erteilte der Doc weitere Ratschläge.
    »Tragen Sie immer eine Mütze, Junge. Das heißt, wenn Sie jemals nachts auf den Straßen gehen. Eine Mütze erspart Ihnen schreckliche Migränen, wenn Sie Kelly oder Moran oder irgendeinem anderen begegnen, der mit größter Geschwindigkeit in die andere Richtung saust, voll feurigem Bier und von Geburt an hartschädelig. Selbst zu Fuß sind diese Männer gefährlich. Da sehen Sie, in Irland gibt’s auch Vorschriften für die Fußgänger, und nachts eine Mütze tragen ist Nummer eins!«
    Der Amerikaner griff unwillkürlich hinter seinen Sitz und zog eine braune Tweedmütze hervor, die er sich am selben Tag in Dublin gekauft hatte, und setzte sie auf. Er schob sie zurecht und blickte in die Nacht hinaus, in der dunkler Nebel brodelte. Er horchte nach der leeren Hauptstraße hinaus, die still und doch irgendwie nicht ganz still wartend vor ihm lag. Auf hundert Meilen einer langen seltsamen Fahrt auf und ab durch ganz Irland sah er tausend Kreuzungen, von tausend Nebeln verhüllt, über die tausend grau verblüffte Gespenster mit Tweedmützen mitten durch die Luft radelten, singend, lachend und mit einem Geruch nach Guiness Stout.
    Er blinzelte. Die Gespenster lösten sich in Schatten auf. Die Straße lag leer, dunkel und wartend vor ihm.
    Der Amerikaner namens McGuire atmete tief, schloß die Augen, drehte den Zündschlüssel und trat auf den Anlasser.

 
Die kleinen Mäuse
     
     
     
    »Sehr merkwürdig«, sagte ich, »dieses kleine mexikanische Ehepaar.«
    »Wie meinst du das?« fragte meine Frau.
    »Man hört nie einen Ton. Horch.«
    Unser Haus stand weit hinten zwischen anderen Mietshäusern, mit einem halben Haus daneben. Als meine Frau und ich es kauften, vermieteten wir die zusätzliche Wohnung, deren Wand an unser Wohnzimmer stieß. Als wir jetzt an dieser Wand standen und lauschten, hörten wir nur unsere Herzen klopfen.
    »Ich weiß, daß sie zu Hause sind«, flüsterte ich. »Aber während der drei Jahre, die sie hier wohnen, habe ich nie gehört, daß ein Topf hinfiel, ein Wort gesprochen oder das Licht angeschaltet wurde. Mein Gott, was tun sie nur da drinnen?«
    »Ich habe nie darüber nachgedacht«, sagte meine Frau. »Aber es ist wirklich sonderbar.«
    »Nur ein einziges Licht brennt, die trübe, kleine blaue Zwanzigwattbirne, die sie in ihrem Wohnzimmer haben. Wenn man vorbeigeht und hineinsieht, dann sitzt er da in seinem Sessel, sagt kein Wort und hat die Hände im Schoß liegen. Sie sitzt im anderen Sessel, sieht ihn an und sagt auch nichts. Sie rühren sich nicht.«
    »Zuerst denke ich immer, sie seien nicht zu Hause«, sagte meine Frau. »Ihr Wohnzimmer ist so dunkel. Aber wenn du lange genug hineinstarrst und deine Augen sich ans Dunkel gewöhnt haben, dann siehst du sie da sitzen.«
    »Eines Tages«, sagte ich, »laufe ich einfach hinein, knipse alle Lichter an und schreie! Großer Gott, wenn ich ihre Stille schon nicht aushalten kann, wie können sie sie dann ertragen? Sie sind doch nicht stumm, nicht wahr?«
    »Wenn er jeden Monat seine Miete zahlt, sagt er ›Guten Tag‹.«
    »Und was noch?«
    »›Auf Wiedersehen.‹«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich ihm auf der Straße begegne, lächelt er und läuft weiter.«
    Meine Frau setzte sich, um zu lesen, Radio zu hören und sich zu unterhalten. »Haben sie ein Radio?«
    »Kein Radio, kein Fernsehgerät, kein Telefon. Nicht ein Buch, keine Zeitschrift und keine Zeitung im ganzen Haus.«
    »Lächerlich!«
    »Reg dich doch nicht so auf.«
    »Ich weiß. Aber man kann nicht zwei oder drei Jahre lang in einem dunklen Zimmer sitzen, ohne zu sprechen, Radio zu hören, zu lesen und sogar ohne zu essen, das ist doch einleuchtend? Ich habe nie etwas von einem Steak oder einem gebratenen Ei gerochen. Und ich glaube tatsächlich, ich habe sie noch nie zu Bett gehen hören!«
    »Das tun sie nur, um uns zu verwirren, meine Liebe.«
    »Und es gelingt ihnen!«
    Ich ging rund um den Häuserblock. Es war ein schöner Sommerabend. Auf dem Rückweg sah ich beiläufig nach ihrer

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