Medizin für Melancholie
eine Million schriller Geräusche liefen sie zurück in ihr Wohnzimmer, zu ihrem blauen Licht, ihren bequemen Stühlen und in ihre Stille. Ich dachte oft daran. Spät abends war mir so, als könnte ich, wenn ich im dunklen Schlafzimmer die Hand ausstreckte, Luftziegel berühren und eine Grille hören, einen Fluß, der unter dem Mond dahinrauschte, und fernen Gesang zur Gitarre.
An einem Dezemberabend brannte das Haus nebenan. Flammen loderten zum Himmel empor, Lawinen von Ziegeln polterten herab, und auf das Dach, unter dem die stillen Mäuse wohnten, fielen Funken.
Ich trommelte an ihre Tür.
»Feuer!« schrie ich. »Feuer!«
Sie saßen regungslos in ihrem blau beleuchteten Zimmer.
Ich klopfte heftig. »Hören Sie? Feuer!«
Die Feuerwehr kam. Sie spritzte Wasser in das brennende Gebäude. Weitere Ziegel fielen herunter. Vier davon schlugen Löcher ins Dach des Nebenhauses. Ich kletterte hinauf, löschte die Flammen und kroch mit schmutzigem Gesicht und zerschnittenen Händen wieder hinunter. Die Tür des kleinen Hauses öffnete sich. Der stille Mexikaner und seine Frau standen ruhig und unbeweglich im Eingang.
»Lassen Sie mich hinein!« schrie ich. »In Ihrem Dach ist ein Loch; vielleicht sind ein paar Funken in Ihr Schlafzimmer gefallen!«
Ich schob die Tür weit auf und drängte mich an ihnen vorbei.
»Nein!« murmelte der kleine Mann.
»Oh!« Die kleine Frau lief im Kreis herum wie ein zerbrochenes Spielzeug.
Ich stand mit meiner Taschenlampe drinnen. Der kleine Mann packte meinen Arm.
Ich roch seinen Atem.
Und dann glitt der Schein meiner Taschenlampe durch die Zimmer ihres Hauses.
Das Licht fiel auf hundert funkelnde Weinflaschen im Flur, zweihundert Flaschen auf den Regalen in der Küche, sechs Dutzend Flaschen auf den Brettern entlang den Wohnzimmerwänden, weiteren Flaschen auf den Kommoden im Schlafzimmer und in Schränken. Ich weiß nicht, was mich mehr beeindruckte, das Loch in der Schlafzimmerdecke oder das endlose Glitzern so vieler Flaschen. Ich hörte auf zu zählen. Es war wie eine Invasion riesiger glänzender Käfer, von irgendeiner Krankheit vor langer Zeit getötet und zurückgelassen.
Im Schlafzimmer spürte ich, daß der kleine Mann und die Frau hinter mir in der Tür standen. Ich hörte sie laut atmen, und ich fühlte ihre Blicke. Da hob ich meine Taschenlampe von den glitzernden Flaschen fort und richtete sie während der übrigen Zeit meines Besuches sorgfältig auf die gelbe Decke.
Die kleine Frau fing leise an zu weinen. Niemand rührte sich.
Am nächsten Morgen zogen sie aus.
Bevor wir wußten, daß sie fortgingen, waren sie schon um sechs Uhr morgens halb die Hintergasse hinuntergegangen und trugen ihr leichtes Gepäck, das anscheinend völlig leer war. Ich versuchte sie aufzuhalten. Ich sprach auf sie ein. Ich sagte, sie seien alte Bekannte, und es habe sich nichts geändert. Sie hätten mit dem Feuer und dem Dach nichts zu tun gehabt. Sie seien unschuldige Zuschauer gewesen, fuhr ich fort. Ich würde das Dach selbst reparieren, es würde sie nichts, gar nichts kosten! Aber sie sahen mich nicht an. Sie betrachteten, während ich sprach, das Haus und den Weg vor ihnen. Als ich schwieg, nickten sie vorwärts, als seien sie der Meinung, daß es Zeit war, zu gehen, und sie fingen an zu laufen, von mir fort, zur Straße hin, wo die Straßenbahnen, Busse und Autos waren und sich ein Labyrinth lärmender Avenuen ausdehnte. Sie liefen jedoch mit stolz erhobenen Köpfen und blickten sich nicht um.
Ich traf sie nur durch Zufall wieder. An einem Abend um die Weihnachtszeit sah ich den kleinen Mann durch die dämmerigen Straßen vor mir laufen. Ich folgte einer plötzlichen Eingebung und ging ihm nach. Wenn er einbog, bog auch ich ein. Schließlich, fünf Blöcke von unserer alten Wohngegend entfernt, kratzte er leise an der Tür eines kleinen weißen Hauses. Ich sah, wie sich die Tür öffnete und hinter ihm schloß. Als die Nacht sich über die Stadt senkte, brannte ein kleines blaues Licht wie blauer Nebel in dem winzigen Wohnzimmer. Ich meinte zwei Silhouetten zu sehen – wahrscheinlich war es Einbildung –, er saß auf einer Seite des Zimmers auf seinem Stuhl und sie auf der anderen Seite im Dunkeln; auf dem Boden hinter den Stühlen sammelten sich bereits zwei oder drei Flaschen, und zwischen dem Paar war kein Laut. Nur die Stille.
Ich klopfte nicht an die Tür. Ich schlenderte vorbei. Ich ging auf der Avenue weiter und hörte die Cafés wie Papageien kreischen.
Weitere Kostenlose Bücher