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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Haustür. Dahinter herrschte Dunkelheit und Stille, und in dem trüben blauen Licht saßen die beiden massigen Gestalten. Ich blieb eine ganze Weile stehen und rauchte meine Zigarette zu Ende. Erst im Weggehen bemerkte ich, daß er jetzt im Eingang stand und mit seinem sanften, aufgedunsenen Gesicht hinaussah. Er rührte sich nicht. Er stand nur da und beobachtete mich.
    »Abend«, sagte ich.
    Stille. Einen Augenblick später drehte er sich um und ging in das dunkle Zimmer.
    Morgens verließ der kleine Mexikaner um sieben Uhr allein das Haus und lief die Straße hinunter, still wie zu Hause in seiner Wohnung. Sie folgte um acht Uhr mit vorsichtigen Schritten, eine plumpe Figur im dunklen Mantel; ein schwarzer Hut schwankte auf ihrem künstlich gekräuselten Haar. So war sie seit Jahren zur Arbeit gegangen, einsam und schweigend.
    »Wo arbeiten sie eigentlich?« fragte ich beim Frühstück.
    »Er arbeitet am Hochofen hier in den Stahlwerken. Sie näht irgendwo in einer Nähstube Kleider.«
    »Das ist schwere Arbeit.«
    Ich tippte ein paar Seiten meines Romans, las ein wenig und schrieb weiter. Um fünf Uhr nachmittags sah ich, wie die kleine Mexikanerin heimkam, aufschloß, hineinlief, das Fliegengitterfenster festhakte und die Tür hinter sich verschloß.
    Er kam um Punkt sechs Uhr angestürzt. Sobald er jedoch auf der Veranda stand, wurde er unendlich geduldig. Er strich langsam mit der Hand über das Gitterfenster, ganz leicht, wie eine scharrende fette Maus, und wartete. Endlich ließ sie ihn hinein. Ich sah nicht, daß ihre Lippen sich bewegten.
    Während der Zeit des Abendessens kein Laut. Man hörte nicht, daß etwas gebraten wurde. Kein Tellerklappern. Nichts.
    Ich sah, wie die kleine blaue Lampe angeknipst wurde.
    »Genauso ist er, wenn er die Miete zahlen kommt«, sagte meine Frau. »Er klopft so leise, daß ich es nicht höre. Dann sehe ich ganz zufällig aus dem Fenster, und da steht er. Gott weiß, wie lange er schon sozusagen an der Tür knabbert.«
    Zwei Tage später, an einem schönen Juliabend, trat der kleine Mexikaner auf die Veranda, beobachtete mich, während ich im Garten arbeitete, und sagte: »Sie sind verrückt!« Er drehte sich nach meiner Frau um. »Sie sind auch verrückt!« Er winkte langsam mit seiner fetten Hand. »Ich mag Sie nicht. Zuviel Lärm. Ich mag Sie nicht. Sie sind verrückt.«
    Danach kehrte er in sein kleines Haus zurück.
    August, September, Oktober, November. Die »Mäuse«, wie wir sie jetzt nannten, lagen ruhig in ihrem dunklen Nest. Einmal gab meine Frau ihm mit seiner Quittung für die Miete auch ein paar alte Zeitschriften. Er nahm sie höflich an, lächelte und verbeugte sich, sagte aber kein Wort. Eine Stunde später sah sie, wie er die Zeitschriften in den Müllverbrenner im Hof steckte und ein Streichholz daran hielt.
    Am nächsten Tag zahlte er seine Miete für drei Monate im voraus, zweifellos mit dem Gedanken, daß er uns jetzt nur noch alle zwölf Wochen nahe kommen mußte. Wenn ich ihm auf der Straße begegnete, wechselte er rasch auf die andere Seite hinüber, wie um einen imaginären Bekannten zu grüßen. Sie lief ganz ähnlich mit übertriebenem, verwirrtem Lächeln an mir vorbei und nickte. Ich kam nie näher als zwanzig Meter an sie heran. Wenn in ihrem Haus Rohre repariert werden mußten, erledigten sie das stillschweigend selbst und brachten einen Klempner mit, der anscheinend mit einer Taschenlampe arbeitete.
    »Eine gottverdammte Geschichte«, sagte der Klempner, als ich ihn auf der Straße traf. »So ‘ne blöde Wohnung. Die haben nicht mal elektrische Birnen in den Fassungen. Als ich fragte, wo sie sie gelassen hätten, lächelten sie mich nur an!«
    Ich lag nachts da und dachte über die kleinen Mäuse nach. Woher kamen sie? Aus Mexiko, ja. Aber aus welcher Gegend? Von einem Bauernhof, aus einem kleinen Dorf irgendwo an einem Fluß? Sicher nicht aus einer Stadt. Sondern aus einer Gegend, wo es Sterne und normale Helligkeit gab, wo der Mond und die Sonne auf- und untergingen, wie die beiden es während der besseren Zeiten ihres Lebens gewohnt waren. Aber jetzt waren sie hier, weit, weit von zu Hause weg, in einer unmöglichen Großstadt, er rackerte sich den ganzen Tag lang schwitzend an den Hochöfen ab, sie saß in einer Nähstube, über flinke Nadeln gebeugt. Dann gingen sie durch die laute Stadt nach Hause und wichen dem Getöse der Straßenbahnen und der Kneipen aus, die sie überall auf ihrem Weg wie rote Papageien kreischen hörten. Durch

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