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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Ich kaufte eine Tageszeitung, eine Wochenzeitschrift und eine Vierteljahresschrift. Dann ging ich nach Hause, wo alle Lichter brannten und warmes Essen auf dem Tisch stand.

 
Küstenstreifen bei Sonnenuntergang
     
     
     
    Tom, bis zu den Knien in den Wellen, hielt ein Stück Treibholz in der Hand und horchte.
    In dem Haus weiter oben an der Küstenstraße war es jetzt am Spätnachmittag still. Die Geräusche von Schränken, die jemand durchwühlte, von zuschnappenden Kofferschlössern, Vasen, die zertrümmert wurden, und einer heftig zugeknallten Tür waren verebbt.
    Chico stand auf dem bleichen Sand und schwenkte sein Drahtsieb, um die Ausbeute an verlorenen Münzen herauszuschütteln. Nach einer Weile sagte er, ohne Tom anzusehen: »Laß sie laufen.«
    So war es jedes Jahr. Eine Woche oder einen Monat lang erscholl Musik aus den Fenstern ihres Hauses, junge Geranien in Töpfen wurden auf die Verandabrüstung gesetzt, und Türen und Stufen erhielten frische Farbe. Die Kleider auf der Wäscheleine verwandelten sich: erst Harlekinhosen, dann Futteralkleider und schließlich handgearbeitete mexikanische Kittel wie weiße Wellen, die sich hinter dem Haus brachen. Drinnen wechselten die Bilder an den Wänden: auf Matisse-Imitationen folgte pseudoitalienische Renaissance. Manchmal sah Tom, wenn er hinaufblickte, eine Frau, die ihr Haar wie eine leuchtendgelbe Fahne im Winde trocknete. Dann wieder war die Fahne schwarz oder rot. Die Frau stand bald groß, bald klein vor dem Himmel. Aber es war nie mehr als eine Frau da. Und dann kam ein Tag wie dieser…
    Tom legte das Treibholz auf den wachsenden Haufen neben Chico, der die Milliarden Fußstapfen von Menschen untersuchte, die seit langem aus diesem Ferienort verschwunden waren.
    »Chico, was machen wir eigentlich hier?«
    »Wir leben wie Reilly, Junge!«
    »Ich fühle mich aber nicht wie Reilly, Chico.«
    »Dann streng dich an, Junge!«
    Im Geist sah Tom das Haus einen Monat später; Staub wehte aus den Blumentöpfen, an den Wänden hingen leere Vierecke, ein Sandteppich bedeckte den Boden. In den Räumen hallte es wie in leeren Muscheln im Wind. Und jede Nacht hörten Tom und Chico, die in getrennten Zimmern schliefen, wie eine Flut, die keine Spur hinterließ, an der Küste verrauschte.
    Tom nickte unmerklich. Einmal im Jahr brachte er ein nettes Mädchen her, aber er wußte doch, daß sie schließlich recht hatte und in kürzester Zeit geheiratet wurde. Doch seine Frauen schlichen immer in aller Stille vor der Morgendämmerung fort; sie fühlten, daß man sie fälschlich für jemand anders gehalten hatte und daß sie diese Rolle nicht zu spielen vermochten. Chicos Freundinnen jedoch verschwanden wie Staubsauger mit schrecklichem Geheul, brausend und tobend, ließen kein Staubkorn am Platz, preßten aus jeder Muschel die Perle heraus und nahmen ihre Geldbörsen mit wie Spielzeughunde, die Chico zuvor gestreichelt hatte, um ihnen die Schnauze zu öffnen und ihre Zähne zu zählen.
    »Das macht in diesem Jahr bisher vier Frauen.«
    »Okay, Schiedsrichter«, grinste Chico. »Sag mir, wie ich da herauskomme.«
    »Chico…« Tom biß sich auf die Unterlippe, bevor er weitersprach. »Ich habe darüber nachgedacht. Warum trennen wir uns nicht?«
    Chico sah ihn an.
    »Ich meine«, sagte Tom rasch, »vielleicht haben wir allein mehr Glück.«
    »Na, hol mich der Teufel«, sagte Chico und packte das Drahtsieb mit seinen kräftigen Fäusten. »Schau her, mein Junge, weißt du denn nicht, wie die Dinge stehen? Du und ich, wir werden noch im Jahre 2000 hier sein. Zwei verrückte, blöde, alte Albatrosse, die ihre Knochen in der Sonne trocknen. Uns glückt jetzt nichts mehr, Tom, es ist zu spät. Das setz dir nur in deinen Kopf und sei still.«
    Tom schluckte und sah ihn fest an. »Ich habe vor, nächste Woche… wegzufahren.«
    »Sei still, sei still und mach dich an die Arbeit!«
    Chico harkte ärgerlich den Sand, wobei er Fünf- und Zehncentstücke und Pennies, dreiundvierzig Cent im ganzen, aufwühlte.
    Er starrte blinden Blicks auf die Münzen, die wie leuchtende Kugeln eines Spielautomaten im Drahtsieb glänzten.
    Tom rührte sich nicht und hielt den Atem an.
    Sie schienen beide auf etwas zu warten.
    Dieses Etwas geschah.
    »He… he… hallo, he!«
    Zweihundert Meter weiter an der Küste kam schreiend und winkend ein Junge angelaufen. Seine Stimme klang so, daß Tom plötzlich fröstelte. Er verschränkte die Arme und wartete.
    »He!«
    Der Junge kam keuchend näher und

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