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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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fest, dass ihn nur noch ein paar Schaufeln Geröll von seinem Ziel trennten. Er hatte gehofft, dass sie sich bis zum Eintreffen des Sturms im Inneren des Berges befinden würden, und wie es aussah, würde sein Wunsch in Erfüllung gehen. Gott war eben mit den Tapferen. Er klatschte in die Hände: »In Ordnung. An die Arbeit!«
     
    Selbst durch den Schleier ihrer Umnachtung schienen Malcolm und Patrick zu begreifen, dass es besser war zu gehorchen. Mit zusammengebissenen Zähnen taten sie, was Hannah von ihnen verlangte. Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, stieg sie die Treppe empor. Sie spürte die Anwesenheit des fremdartigen Steins, doch wagte sie nicht, ihn anzublicken. Noch nicht. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe erklomm sie die mächtige Statue, das Gewehr unverwandt auf die beiden Männer gerichtet.
    Dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Unmittelbar neben ihr ragte das hässliche Antlitz der Medusa in die Höhe, aus deren Auge unablässig Wasser strömte. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Ergreifenderes gesehen zu haben. Trotz ihres abstoßenden Äußeren verströmte die Medusa eine Aura von Trauer und Melancholie, die Hannah tief berührte. Sie schien um die Menschheit zu weinen, und um all das Unglück, das sie ihr bereitet hatte. Hannah biss die Zähne zusammen, griff in die Umhängetasche, zog ihre ledernen Arbeitshandschuhe über, hob den stählernen Gewehrkolben und schlug auf den Glaskopf ein. Einmal, zweimal, dreimal. Unablässig und mit äußerster Kraft.
    Als sie schon glaubte, es nicht zu schaffen, hörte sie ein Knacken. Durch das gläserne Haupt zog sich ein Riss, der mit jedem weiteren Schlag größer wurde. Von neuer Hoffnung beflügelt, schlug sie ein weiteres Mal zu. Ein großes Stück Obsidian oberhalb der Nase brach ab und stürzte in die Tiefe, wo es klirrend zerschellte. Noch ein weiterer Schlag und das apfelsinengroße Gebilde lag frei. Grau, kalt schimmernd und mit unregelmäßig geformten Narben überzogen, schwitzte es im Licht der Lampe. Hannah griff zu, ohne zu zögern, packte den Kometenkern, wickelte ihn in einen alten Pullover und steckte ihn in ihre lederne Umhängetasche. Doch wenn sie geglaubt hatte, durch ihre Handschuhe vor der Wirkung des Steins geschützt zu sein, sah sie sich getäuscht. Ein Funkenregen ging vor ihrem inneren Auge nieder und blendete ihre Netzhaut. Kaskaden gleißenden Lichts füllten ihr gesamtes Blickfeld, während ein Lärm wie von tausend Glocken in ihren Ohren dröhnte. Doch als der Stein in die Tiefen ihrer Tasche glitt und sich ihre Finger von ihm lösten, verflog der Zauber. Zurück blieb ein Gefühl der Verwirrung und Orientierungslosigkeit und ein Geräusch, das sie nicht identifizieren konnte. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Kontrolle über ihre verwirrten Sinne zurückzuerlangen. Sie schüttelte den Kopf, doch das Geräusch hielt an. Es war ein lang gezogener, markerschütternder Schrei. Entsetzt von der Wut, die darin lag, klammerte sie sich an die Waffe, während sie die Stufen hinabschritt. Sie erkannte, dass der unmenschliche Schrei aus Patricks Kehle stammte. Er stand da, hielt seine Hände gegen die Ohren gepresst und schrie, während er sie aus hasserfüllten Augen anstarrte. Malcolm hingegen hatte seine Hände zu Fäusten geballt. Die Knöchel traten weiß hervor. Hannah schauderte. Was immer sie getan hatte, in den Augen der beiden Männer schien sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht zu haben, für das es nur eine Strafe geben konnte: den Tod. Sie rechnete damit, dass sich die beiden jeden Moment auf sie stürzen würden. Das Gewehr schien ihr in diesem Zusammenhang nur ein schwacher Schutz zu sein.
    »Wagt es nicht, euch zu bewegen«, zischte sie, während sie Meter um Meter Richtung Ausgang ging. Bösartige Augen fixierten sie. Augen, aus denen Wut und Verzweiflung sprühten. Jede ihrer Bewegungen wurde genauestens beobachtet und analysiert. Noch nie zuvor hatte sie das Gefühl körperlicher Bedrohung deutlicher gespürt als in diesem Augenblick.
    Als sie in die Dunkelheit des Eingangstunnels trat, merkte sie, dass sie ihre Panik nicht mehr zügeln konnte. Sie nahm die Beine unter den Arm und rannte, so schnell sie nur konnte. Nur noch weg. Sie musste der Enge und Dunkelheit dieses Tempels entfliehen.
    Doch draußen angekommen, sah sie sich mit einer neuen Gefahr konfrontiert. Gregori lag keuchend am Boden, Irene über ihm, ihre Hände an seiner Kehle, während sie sich mit ihrem ganzen Gewicht über ihn

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