Medusa
Aufstiegs bewältigt, als sie unter sich das Kratzen von Steigeisen hörte. Sie blickte nach unten und entdeckte Chris, der sich verzweifelt bemühte, ihr zu folgen. Er sah, dass sie ihn bemerkt hatte, und brachte ein gequältes Lächeln zustande.
»Warte einen Moment«, rief er herauf.
Sie verdrehte die Augen.
»Bin gleich bei dir«, schnaufte er. Seinen Worten zum Trotz griff er daneben und konnte sich nur mit Mühe halten. »Scheiße, ist das glatt«, hörte sie ihn keuchen. »Wie bist du da nur hochgekommen?«
Hannah überlegte kurz, ob sie ihn da einfach hängen lassen sollte, dann entschloss sie sich, ihm zu helfen. Das Risiko abzustürzen war für einen ungeübten Kletterer einfach zu groß. Verdammt. Sie hatte doch ausdrücklich darum gebeten, allein zu sein.
»Bleib, wo du bist. Ich komme runter.«
Stück für Stück hangelte sie sich die Wand hinab, wobei sie sorgfältig darauf achtete, die beim Aufstieg geprüften Griffe zu setzen. Klettern war in erster Linie eine Kopfsache. Jeder Griff, jeder Schritt und jeder Zug mussten vorher genau durchdacht und geplant werden. Wer es eilig hatte, machte Fehler. Es dauerte einige Minuten, bis sie Chris erreicht hatte. Er war immer noch kreidebleich vor Schreck. Hannah lächelte ihm aufmunternd zu.
»Hier, nimm meine Hand. Ich werde dich herüberziehen, verstanden?«
Er nickte und griff nach ihrer ausgestreckten Hand. Hannah zählte bis drei, dann fasste er sich ein Herz und sprang zu ihr auf den schmalen Vorsprung. Eine Hand voll Geröll löste sich vom Felsen und prasselte in die Tiefe. Außer Atem presste Hannah den Geretteten an sich. Chris’ Gesicht war schweißüberströmt, und er zitterte am ganzen Körper, doch er brachte ein Lächeln zustande.
Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, empfand sie das Bedürfnis ihn zu küssen. Seine schweißüberströmten Lippen zu küssen, ihn mit ihrer Zunge zu liebkosen. Großer Gott, dachte sie, das würde sie womöglich endgültig aus dem Gleichgewicht bringen. Man würde sie tot am Fuße der Felsklippe finden, eng umschlungen und mit einem Lächeln im Gesicht.
»Sieh mich nicht so an«, bat er. »Ich weiß, dass ich nicht mitkommen sollte, aber ich musste dir einfach folgen. Es war verdammt leichtsinnig von dir, ohne Begleitung aufzubrechen.«
»Ich wollte es so.«
»Aber wenn dir etwas zugestoßen wäre, hätten wir dich in diesen Bergen niemals gefunden.«
»Wäre das so schlimm gewesen?«
»Ich bitte dich, so etwas darfst du nicht sagen.«
»Malcolm scheint aber anderer Ansicht zu sein«, entgegnete sie.
»Malcolm ist ein Ignorant. Wer gibt schon etwas auf dessen Meinung? Der hat doch nur auf so einen Anlass gewartet, damit er dir eins auswischen kann. Zugegeben, deine Vorstellung war ein bisschen sehr dramatisch, aber es ist ja nichts passiert. Meiner Meinung nach war Patrick einfach mit den Nerven am Ende. Wie viele von uns«, fügte er hinzu.
Hannah tat so, als würde sie zustimmen, doch im Geiste war sie anderer Ansicht. Was mit Patrick geschehen war, hatte nichts mit angespannten Nerven zu tun. Sie glaubte zu spüren, dass eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen hatte. Eine Macht, die ihn nur sehr widerwillig freigegeben hatte.
»Du hast wahrscheinlich Recht. Trotzdem finde ich, dass ich eine Pause verdient habe. Wenn jeder seiner Arbeit nachgehen würde, statt sich mit kleinlichen Machtkämpfen abzugeben, hätte es diesen Streit überhaupt nicht gegeben. Bist du bereit, wieder hinunterzuklettern?«
Chris blickte in den Abgrund und schüttelte energisch den Kopf. Sie seufzte. »Dann müssen wir zusehen, wie wir dich da hinaufbekommen. Hast du genug Kraft, um weiterzumachen?«
Chris biss sich auf die Unterlippe. »Ich denke schon. Aber allein werde ich es kaum schaffen.«
»Also gut«, bemerkte sie mit einem Blick nach oben. »Ich werde vor dir klettern. Du folgst mir im Abstand von zwei Metern. Du musst meine Griffe genau kopieren, dahin treten, wohin ich trete, und exakt in meiner Spur bleiben. Ich werde dir beim Klettern die entsprechenden Anweisungen geben. Kapiert?«
»Yes, Sir!«
Sie schüttelte den Kopf und begann aufzusteigen.
Zwei Stunden später befanden sie sich auf der anderen Seite des Walls, im Schatten dunkler, kühler Felsen. Der Abstieg war wesentlich einfacher gewesen, als die Karte vermuten ließ. Hier unten gab es allerlei Flechten und Sträucher, die sich in die Nischen und Furchen zwischen den Gesteinsplatten pressten. Hoch oben zogen einige Wolken über den schmalen
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