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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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aus Skepsis und Neugier an, doch er konzentrierte sich weiter auf den Stein. Plötzlich begannen Töne in seinen Ohren zu klingen. Weit entfernte Glocken, fünf Schläge in unterschiedlichen Tonhöhen, die nach einer kurzen Pause wiederholt wurden. Es war eine wundervolle kleine Melodie. Winzige Lichtblitze begannen vor seinen Augen zu tanzen. Sie formierten sich zu einem Muster auf seiner Netzhaut, und er hätte schwören können, dass er dieses Muster schon einmal gesehen hatte. Dann verteilten sich die Funken wieder, wirbelten herum und versprühten den Glanz eines Funkenregens, der von einem abendlichen Lagerfeuer zum Himmel aufsteigt. Sie drehten sich wild umeinander, taumelten und wogten, bis sie sein gesamtes Blickfeld ausfüllten. Ein Feuerwerk, das spürte Chris, dem eine Seele innewohnte. Und als es einem der Funken gelang, näher in sein Blickfeld zu rücken, erkannte er ein Bild, ein Bild aus seiner eigenen Vergangenheit. Ein Fragment der Erinnerung, das er längst vergessen zu haben glaubte.
    Er sah sich und Paulina, ein Mädchen aus seiner Klasse, in das er unsterblich verliebt war, gemeinsam mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Er sah, wie er wegen einer kleinen Unaufmerksamkeit gegen einen Stein stieß und der Länge nach in den Rollsplitt flog. Er sah sich mit blutigem Knie am Straßenrand sitzen, während Paulina mit wehendem blondem Haar lachend davonfuhr. Sie ließ ihn weinend am Straßenrand sitzen, und ihm wurde klar, dass sie sich nie für ihn interessiert hatte. Der Funke tanzte davon und mischte sich wieder in den Reigen seiner Artgenossen.
    Chris zog die Hand zurück und schloss die Augen. Tränen rannen über seine Wangen, tropften zu Boden und vermischten sich mit den Tränen der Medusa. Er spürte Hände, die sich auf seine Schultern legten und ihn sanft von dem wundersamen Stein fortzogen. Dann war nur noch ein schwarzes Nichts.
    Als er wieder erwachte, erkannte er Hannah, die sich über ihn beugte und ihm mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. In ihren Augen spiegelten sich Besorgnis und ein unerklärlicher Zweifel.
    »Wasser«, war alles, was er in diesem Moment herausbringen konnte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, und sein Mund fühlte sich an, als hätte er seit Wochen nichts getrunken. Hannah setzte ihm die Feldflasche an die Lippen. Das kühle Wasser war eine Wohltat. Mit jedem Schluck strömte neue Energie durch seinen Körper, bis er sich kräftig genug fühlte, sich aufzurichten.
    Verwundert bemerkte er, dass man ihn, ohne dass er sich daran erinnern konnte, vor den Tempel getragen und auf ein Lager von Jacken und Hemden gelegt hatte. Im weichen Licht der Grünalgen sah er seine Mitstreiter im Kreis um ihn sitzen. Alle schienen auf eine Erklärung zu warten.
    »Das war ja was«, sagte er zögernd. »Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Es ging so schnell, dass ich erst einmal versuchen muss, meine Gedanken zu ordnen. Ich erinnere mich, wie ich das Auge berührt habe. Es sendete Funken aus, und ich erinnerte mich plötzlich an Dinge, die ich längst vergessen zu haben glaubte.« In allen Einzelheiten schilderte er den Vorfall mit Paulina, auch wenn das für ihn eine schmerzliche Erfahrung gewesen war. »Der Stein hat mir einen Teil meiner Vergangenheit wiedergegeben. Es war schön und grausam zugleich«, murmelte er.
    Als er bemerkte, dass die anderen ihn weiterhin anstarrten, ohne ein Wort zu sagen, beschlich ihn ein seltsames Gefühl.
    »Es war nur eine vorübergehende Schwäche. Ihr braucht euch wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Ich fühle mich wieder prächtig.«
    Sieben Augenpaare waren unverwandt auf ihn gerichtet, wie auf ein fremdartiges Insekt. Chris spürte ein unangenehmes Kribbeln seine Wirbelsäule hinaufkriechen. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    Immer noch Schweigen.
    »Was ist los?«
    Hannahs Gesicht hatte sich verändert. Eine steile Falte zog sich zwischen ihren Augenbrauen empor. Ihre Lippen waren zusammengepresst, und schmale Linien hatten sich um ihre Mundwinkel gebildet, wodurch ihr schönes Gesicht um Jahre älter wirkte.
    »Du hast geredet, während du den Stein berührt hast«, sagte sie. Sie stieß die Worte hervor, als hätten sie einen giftigen Beigeschmack. »Ziemlich viel sogar.«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Was habe ich denn gesagt?«
    Eine düstere Vorahnung beschlich ihn.
    »Du hast einige Namen erwähnt«, schaltete sich Irene ein, ihre Stimme klang eisig. »Orte und Begebenheiten, auf die wir uns keinen Reim machen

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