Medusa
zwischenmenschlichen Problemen bis hin zu Erkrankungen, Behandlungen und Therapiestunden. Nicht zu fassen, was dort zu lesen stand.
Dass Irene Clairmont mit einem Kredit über neunzigtausend Dollar in der Kreide stand und obendrein seit zwei Jahren in ein schmutziges Scheidungsverfahren verstrickt war, hätte er sich beim besten Willen nicht vorstellen können. Die Frau wirkte so überlegen und erfolgreich. Patrick Flannery war ebenfalls verschuldet. Spielschulden offensichtlich, ein beträchtlicher Batzen. Das reguläre Gehalt eines technischen Assistenten reichte scheinbar nicht aus, um den Kredit zu tilgen.
Durand schüttelte den Kopf. Nichts war so, wie es den Anschein hatte. Hinter der glatten Fassade erfolgreicher Geschäftsleute fand sich überall nur marodes Mauerwerk, man brauchte nur daran zu kratzen, schon fiel der Putz in großen Stücken herab. Dass Malcolm Neadry früher ein Problem mit Alkohol gehabt hatte, hatte er ihm angesehen. Durand hatte ein Auge für so etwas. Großporige Haut, Tränensäcke, schütteres Haar, die Spätfolgen waren unübersehbar. Aber anscheinend war es ihm gelungen, seine Sucht zu überwinden. Jedenfalls ging aus den Akten hervor, dass er seit vier Jahren trocken war. Nichts gebracht hatte dagegen die Behandlung seiner chronischen Impotenz. Ob sie nun eine Folge des Alkoholismus oder beides auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen war, ließ sich nicht erkennen.
Bei Hannah Peters und ihrem Begleiter Abdu war der Bestand an Informationen leider mager. Sie war eine mittelmäßig begabte Studentin gewesen, hatte einige Jahre mit Theodore Monod, dem großen Saharaforscher, verbracht und sich darüber hinaus mit ihrer Familie überworfen. Nichts von Bedeutung. Aber die beiden schienen ohnedies nur Randfiguren in diesem verrückten Spiel zu sein.
Er überflog die Seiten. An Chris Carter blieb sein Blick hängen. Oder sollte er besser sagen, John Evans? Denn so lautete ja sein richtiger Name. Aus den Akten ging hervor, dass ihm clevere Fälscher und Hacker eine komplett neue Identität verpasst hatten. Durand erinnerte sich an ihn als einen stillen Mann mit wachsamen Augen. Sehr gut aussehend. Er arbeitete als Scout für Norman Stromberg, half ihm dabei, noch mehr Kulturschätze anzuhäufen. Promovierter Klimatologe, summa cum laude an der Universität von Yale, nie verheiratet gewesen. Ob er seine Tarnung weiter aufrechterhalten würde, jetzt, da sich die Situation verändert hatte? Wahrscheinlich schon. Sein psychologisches Profil legte diese Vermutung nahe. Die Frage war, ob Stromberg ihm rechtzeitig Informationen über Naumanns Verbindungsperson in der Gruppe zuspielen konnte. Er hoffte nicht, denn das würde die Lage erheblich komplizieren.
Durand trommelte mit seinen Fingern auf die metallene Tischplatte. Es hatte keinen Sinn, sich Spekulationen hinzugeben, ehe er mehr Informationen in der Hand hatte. Seine Hoffnung baute darauf, dass es dem Maulwurf gelang, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, ehe die Gruppe den mysteriösen Gegenstand außer Landes geschafft hatte. Zumindest sollte es ihm gelingen, irgendein Signal abzusetzen, um Durand einen Hinweis auf den augenblicklichen Aufenthaltsort des Teams zu geben. Andererseits wollte er nicht so lange warten. Er musste jetzt handeln. Mit einem letzten Blick auf das Foto des Maulwurfs klappte er den Ordner zu und legte ihn zurück in die Transportkiste.
Sein Blick wanderte zurück zu der topografischen Karte. Ein Zentimeter auf der Karte entsprach 250 Metern in der Natur – ein hinreichend großer Maßstab. Etwas Besseres war für diese Gegend nicht aufzutreiben. Er selbst hatte an der Vermessung des Aïr und der Erstellung dieser Karte mitgewirkt, doch nun bemerkte er, dass die Satellitenaufnahmen, die dem Werk zugrunde lagen, nicht alle Einzelheiten erfasst hatten. Was sie nicht abbilden konnten, das waren die zahllosen Gänge und Höhlen, die das Gebirge durchzogen. Selbst die Rebellen kannten nicht alle Schlupfwinkel.
Stunde um Stunde waren die Patrouillen bisher unterwegs gewesen, auf der Suche nach einem Hinweis über den Verbleib der Gruppe. Doch bisher gab es keine Erfolge zu vermelden.
Der Oberst überschlug im Kopf die Zeit, die den Forschern zur Verfügung gestanden hatte, um sich vor dem Sturm in Sicherheit zu bringen. Er berechnete die durchschnittliche Marschgeschwindigkeit in diesem Gelände und ermittelte daraus den maximalen Radius, den sie zurückgelegt haben konnten. Dann griff er nach einem
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