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Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Spekulationen hinzugeben. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit also wieder auf die Medusen. Die Statuen bestanden ganz und gar aus Obsidian, einem Material, das ihnen mit seiner durchscheinenden Eigenschaft eine ungewöhnliche Lebendigkeit verlieh. Es ließ die Oberfläche wie feuchte, glänzende Haut aufscheinen. Chris fragte sich zum wiederholten Mal, wie es den Menschen vor dreizehntausend Jahren möglich gewesen sein sollte, ein derart hartes und sprödes Material so kunstvoll zu bearbeiten.
    Es wirkte bei näherer Betrachtung, als hätten sie es mit Schneidbrennern bearbeitet. Eine absurde Vorstellung, die er sofort verwarf, denn in diesem Moment entdeckte er bei der mittleren Figur ein auffälliges Detail, das sie von den beiden anderen unterschied. Das Auge.
    Es besaß nicht nur die beunruhigende Eigenschaft, ihn direkt anzustarren, es bestand auch aus einem völlig fremdartigen Material. Sie hatten es in den Obsidiankopf eingepasst und bis auf eine etwa zehn Zentimeter große kreisförmige Öffnung auf der Vorderseite vollkommen von vulkanischem Glas umschlossen. Chris’ ganze Aufmerksamkeit wurde von dieser grauen, unförmigen Kugel angezogen. War das der Gegenstand, nach dem sie die ganze Zeit gesucht hatten? Der Tempel, die Höhle, die kunstvolle Krypta, selbst die Darstellung im Tassili N’Ajjer – hatte das alles nur den Zweck verfolgt, diesen Gegenstand zu schützen? Dieses Auge war der Nukleus, das Zentrum einer Hochkultur aus der Frühzeit der Menschheit – einer Zeit, in der der Begriff Zivilisation für den Rest des Erdballs keine Bedeutung hatte. Woher er diese Eingebung hatte, konnte er selbst nicht erklären, doch war es mehr als Spekulation, das fühlte er.
    Doch was für eine Bewandtnis mochte es mit diesem bleiartig aussehenden Mineral auf sich haben? Es war weder kunstvoll bearbeitet, noch wirkte es in irgendeiner Weise wertvoll. Es war ein hässlicher grauer Klumpen, der überhaupt nicht zur Schönheit des Obsidiantempels passen wollte. Vielleicht war es gerade dieser Widerspruch, der ihn von seinem Wert überzeugte. Eine steinerne Treppe führte dicht an das Auge heran. Die Stufen glänzten schwarz im kalten Licht der Flamme.
    In stummer Ehrfurcht schritten die Mitglieder der Gruppe die Stufen empor und passierten die betenden Skulpturen, bis sie unmittelbar vor der Medusa standen. Schweigend betrachteten sie das dreilappige Auge, das wie ein fremder Stern auf sie herabschien. Das Material war in der Tat merkwürdig. Grobe Einsprengsel in einer feinkörnigen Grundmasse waren zu erkennen. Und der Glanz der Oberfläche vermittelte den Eindruck triefender Feuchtigkeit. Irene, die das seltsame Phänomen ebenfalls entdeckt hatte, hob die Lampe, und ein großartiges Bild tat sich vor ihnen auf. Die Feuchtigkeit war nicht bloßer Schein, sondern Realität. Tränen rannen an den Seiten der Lider herab und sammelten sich in zwei Kanälen.
    »Seht nur, sie weint«, hauchte Irene und näherte sich dem Auge. Malcolm, der direkt hinter ihr stand, verfolgte jede ihrer Bewegungen mit seiner Kamera. Mochte er nun ein unsensibler Holzklotz sein oder nicht, jedenfalls war er Profi genug, um zu erkennen, dass dies ein besonderer Augenblick war, den man besser dokumentierte. Vielleicht würde doch noch ein Film daraus, wenn auch ein anderer, als sie ihn geplant hatten. Chris kam es so vor, als flossen die Tränen bei zunehmendem Licht stärker, aber das war sicher nur Einbildung. Hier unten spielten einem die Sinne merkwürdige Streiche. Er starrte auf die Erscheinung. Das tränende Auge drängte sich so sehr in den Mittelpunkt seiner Wahrnehmung, dass alles andere zu verblassen schien. Ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, was er tat, hob er seine Hand und berührte den merkwürdigen Stein.
    »Nicht«, hörte er Hannahs Stimme, doch da war es schon geschehen. Seine Finger glitten über das kühle, wassergetränkte Material und befühlten die knotige Oberfläche. Der Stein schien zu vibrieren. Wie ein mächtiger Transformator, durch den Hunderttausende von Volt strömten. Die Schwingungen bahnten sich ihren Weg durch den Stein in seinen Arm und von dort in seinen Körper. Er konnte sich nicht beherrschen, aber das Kitzeln und Summen zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht.
    »Großer Gott, es ist wundervoll«, flüsterte er. »Ich glaube, der Stein spricht zu mir. Er will mir etwas mitteilen. Ihr solltet es auch versuchen. Wartet, jetzt verändert sich etwas.« Alle starrten ihn mit einer Mischung

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