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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Friedrich
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da. Es war keiner mehr da, als ich ins Auto zurückkam, natürlich, das können Sie nicht wissen, aber erinnern Sie sich denn nicht an den Jungen? Er war sehr mager, er blutete. Ein junger Mann, er hatte ein Kind auf dem Arm. Erinnern Sie sich nicht an das Kind, es war der Junge, der mein Auto angehalten hat. Der mich zu Ihnen geschickt hat, er hat Sie gerettet«,
    Ihr Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren. Unter den wieder geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor, das also war seine Magie: Sie zu berühren, wo es ihr weh tat, er biß sich auf die Lippen, hart. Sagte,
    »Bitte weinen Sie doch nicht.« Sagte, »Sorry, sorry, es tut mir leid«,
    Die Tränen rannen in den Verband. Er sah sich nach etwas um, womit er sie abwischen konnte, fand eine Serviette auf dem Nachttisch. Unterdrückte ein Aufstöhnen: Sie verstand also alles. Nahm den Sinn von Worten auf, begriff also auch, was man mit ihr machen würde: die Haut, die Muskeln ihres Beins aufschlitzen, die Knochen bloßlegen. Die Schrauben des Foltergestells aus ihren Knochen herausdrehen. Nägel in ihre Knochen treiben, ihr die Zehen abschneiden,
    »Es tut mir so leid, bitte glauben Sie mir, es tut mir so leid«,
    Aber das hatte er ihr ja schon längst gesagt: daß ihm etwas leid tat,
    Pain .
    Es war kein Wort: nur ein Atemzug, mühsam, ihre Hand flog über die Laken. Fand das Kabel, das Licht an der Wand zuckte auf,
    Pain, Pain,
    Und wo hatte der Baseballschläger sie zuerst getroffen? Am Kopf vielleicht. So daß sie nur diesen einen Schlag hatte fühlen müssen, aber das war nicht möglich: Er war Blutspuren gefolgt. Sie mußte versucht haben, von ihrem Folterer fortzukriechen: während der Schläger ihr die Knochen zertrümmerte, die gesplitterten Knochen tief ins Gewebe trieb, die Abwehr schnürte ihm den Magen, den Brustkorb zusammen. Die Genauigkeit seiner Vorstellung: die sich nicht abwehren ließ damit, daß er die Muskeln von Bauch und Rücken anspannte, bis sie sich verkrampften, und wessen Kind hatte der Junge überhaupt auf dem Arm gehabt, sein eigenes? Oder womögliehdas ihre, die Schwester stand neben dem Bett. Sah auf die Kranke herab, sah dann auf die Uhr. Sagte freundlich,
    »Aber es ist noch zu früh. Es ist noch viel zu früh für Ihr Schmerzmittel, Sie müssen noch zwei Stunden durchhalten«,
    Die Kranke keuchte. Winselte dann: eine Hündin. Oder eine Wölfin vielleicht. Die Stahlklammern der Falle hatten ihr die Pfote zerschmettert, bissen ihr immer noch in den nackten Knochen, das taten Wölfe: Sie nagten die eigene Pfote ab, um sich zu retten, Robert Brauer floh, schwach vor Entsetzen.
    Draußen fiel neuer Schnee, lautlos.
    Die Nacht war schwarz, stockstill.
    Schnee fiel auf das Krankenhaus. Schnee fiel auf das Dach der Lodge, auf den Wald. Auf die Bäume des Waldes, Schnee fiel lautlos auf dünnes Eis. Verdeckte das Eis: über das man ging. Über das man festen Schrittes marschierte wie alle anderen auch, an manchen Stellen war das Eis dünn wie Papier: auf einer Straße vielleicht.
    Über die ein Auto fährt. Das ins Schleudern gerät, Eis bricht, splittert zu langen Dolchen wie Glas, Blut spritzt über den Schnee: der das Eis nun nicht mehr verdeckt. Den Abgrund. Das strandlose Meer: über dem nur das Eis ist, die anderen ziehen weiter, morgen ist wieder ein neuer Tag!
    Aber das Eis schmilzt unentdeckt, unter dem Schnee. Unter den Strahlen eines Röntgengeräts vielleicht, bei einer Routineuntersuchung. In einem Tal in den Alpen, unter den Trümmern von Drachenflügeln, das Eis kann überall schmelzen, in jedem Moment. Um Mitternacht, wenndie Treppe knarrt unter leisen Schritten. In den Stunden vor Morgengrauen: wenn es dreimal an die Tür eines dunklen Hauses pocht, Robert liegt auf dem Bett.
    Er liegt vollkommen still: Er wagt keine Regung. Der Fernseher läuft. Aber er kommt nicht an gegen das Knistern des Eises. Gegen die Lautlosigkeit des Schnees: der auf einen Wald fiel. Auf eine einsame Straße in einem Wald, irgendwo in den nordöstlichen Ausläufern der Appalachen, in einer Februarnacht, die reglos war vor Frost, jemand stand in einer Kurve, winkte. Robert hielt an. Stieg aus, fand etwas im Schnee, nun kann Robert das Knistern des Eises hören.
    Das Risse bekommt. Haarfeine Risse, Robert kann den Abgrund nun spüren. Den Abgrund unter Robert: der immer da war, aber nun hört Robert das Knistern des Eises. Unter dem Eis ist der Abgrund: das strandlose Meer. Sonst gibt es nichts.
    Er saß auf seinem Stuhl. Die Eisprinzessin war

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