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Meer ohne Strand

Meer ohne Strand

Titel: Meer ohne Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Friedrich
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wach. Ihre Augen waren aber geschlossen, Dorothy Benning war fort. Sie war heute entlassen worden. Sie hatte Robert ihre Adresse aufgeschrieben,
    »Wir würden uns wirklich freuen, Robert, kommen Sie, sobald Sie können«,
    Er sah aus dem Fenster. Wo der Baum immer noch stand: unerreichbar für Robert Brauer. Für die Eisprinzessin, im Bett neben ihm, er würde sie nicht noch einmal behelligen, versuchen, sie zum Sprechen zu bringen. Sie sprach ja: Einsilbensätze, an niemanden gerichtet,
    Tea,
    Das hatte sie vorhin gesagt. Der Tee war in einer Schnabeltasse. Die auf dem Nachttisch stand, gleich rechts nebenihm, er hatte Dorothy Bennings Blick gefühlt. Die goldenen Setteraugen, er hatte die Tasse in die Hand genommen, dabei die Pralinen vom Tisch gestoßen. Hatte die Tasse wieder weggestellt, sich nach den Pralinen gebückt. Sie dann doch auf dem Boden liegenlassen, er war aufgestanden. Hatte sich über die Kranke gebeugt, die Zähne zusammengebissen. Vorsichtig seinen Arm unter ihren Kopf, die Hand unter ihre Schulter geschoben, und wenn sie jetzt schrie?
    Er hob sie an, sie schrie nicht. Aber nun konnte er den Tee nicht mehr erreichen. Konnte nicht mit dem linken Arm über den rechten zurückgreifen bis zum Nachttisch, mußte sie also wieder in die Kissen gleiten lassen, noch einmal von vorne beginnen: zuerst den Tee in die Linke nehmen, dann den Arm unter ihren Kopf, ihre Schulter schieben, sie stöhnte. Er grub die Zähne in seine Lippe. Hielt ihr die Schnabeltasse an den Mund. Sie trank. Er konnte sehen, daß er ihr weh tat.
    Konnte dann aber noch etwas anderes sehen: den genauen Zeitpunkt, zu dem sie genug getrunken hatte, er begriff etwas: Es gab den Moment des Durstes, den Moment der Sättigung. Es gab Schmerz, Variationen des Schmerzes. Es gab das Zimmer, in dem er neben ihr saß: nun allein mit ihr und dem knisternden Eis. Das unter ihr wegbrach, sie hing schon bis zur Hüfte im Meer. Dem Meer ohne Strand, wieviel Gewicht hielt das Eis um sie aus? Würde es Robert Brauer aushalten: der vorsichtig auf sie zukroch, er konnte nicht mehr zurück. Konnte die Richtung nicht ändern, schon gar nicht innehalten auf papierdünnem Eis, es blieb ihm nichts anderes übrig als weiterzukriechen. Sich leichtzumachen, ganz leicht: Das Gewicht eines Gedankens mochte bereits zuviel sein fürdas Eis, er begriff, es gab Schlaf. Es gab Verlangen nach Schlaf auf dem Eis, sonst gab es nichts. Es waren noch vier Tage bis zu der Operation.
    Dann noch drei Tage, zwei, den Weg zwischen Krankenhaus und Hotel legte er nun immer zu Fuß zurück. Es war ein weiter Weg, er brach gegen neun auf: so daß er am späten Vormittag ankam, wenn die meisten Untersuchungen, Visiten, Therapien bereits vorüber waren, er ging langsam, Schritt für Schritt. Atmete tief dabei: Schneeluft, die nach Blechlöffeln schmeckte, morgens sah er die Häuser an. Beschloß, sich zu freuen auf bestimmte Häuser, Fassadendetails: auf die im kaltblauen Morgenlicht weichen Schatten eines Verandageländers. Auf einen Anbau, elegant wie ein Möwenflügel und ebenso weiß. Auf die geschnitzten Balken, Laubsägefüllungen eines weit vor die Fassade gezogenen Windgesperres: Er verwarf den Fachausdruck in selben Moment, in dem er ihm einfiel. Mußte sehen, was er sah: nicht, was er gelernt hatte zu bezeichnen, im Schaufenster eines Buchladens betrachtete eine Schaufensterpuppe bäuchlings einen Bildband. In einem Reisebüro waren Gläser und Flaschen voll Meersand aufgereiht. Grobkörniger und kiesiger und mehlfeiner Meersand, anthrazit, graugelb, muschelweiß, er las die Beschriftungen auf den Flaschen: Maui, Hawaii. Venice, California. West Palm Beach, Florida. Zanzibar, Ball, Tobago, Cape Cod, er nahm das Gesehene mit in ihr Zimmer: wo er an ihrem Bett saß bis in den Nachmittag, abends war er erschöpft.
    Ohne doch viel mehr getan zu haben, als sie zu füttern, ihr Tee zu geben, auf dem Heimweg sah er nur noch den Weg zu seinen Füßen. Sah den Schnee, der verharschtwar und schmutzig, im Hotel nahm er ein Bad. Blieb lange im Wasser liegen, kleidete sich dann an. Ging hinunter ins Restaurant: Wo sich der Kellner jeden Abend diskret nach dem Befinden der Kranken erkundigte, man wußte, wer Robert war. Warum er hier war, er antwortete vage.
    Erkundigte sich aber seinerseits nach dem Befinden des Kellners: der Mitte Dreißig sein mochte, in seiner Freizeit an seinem Haus herumbastelte, er hieß James Healey. Er hatte eine Frau, einen kleinen Sohn. Er war ein begeisterter

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