Meer ohne Strand
mitten in einen sozialkritischen Roman hineingeraten: an die Stelle, wo der Rückblick auf die schlimme Kindheit des Helden beginnt, sie sagte: »Was ist denn in der Tasse?«
Jacques schwitzte. Hielt das Kind fest,
»Gin, mit etwas Honig drin. Das hilft ihm beim Ruhigsein. Warte nur einen Moment«,
Sie ging auf das Bett zu. Er sagte: »Das hier ist viel besser, als wenn ich ihn haue. Ich habe ihn einmal gehauen, da hat er noch mehr geschrien, ich kann es genausowenig haben wie du, wenn er immerzu schreit. Wenn er unbedingt seinen Kopf durchsetzen will«,
Sie nahm die Tasse vom Nachttisch, sehr vorsichtig.
Ging in die Küche, trat den Mülleimer auf. Schleuderte die Tasse in den Müll: die zerbrach, hielt sich einen Moment am Küchenschrank fest, schwindlig vor Wut. Als sie sich umdrehte, stand er vor ihr. Fuhr sie an,
»Was soll denn die Scheiße?«
Ihre Stimme war vollkommen ruhig. War freundlich, glatt: eine Wachstuchdecke mit Blümchen darauf,
»Ich bitte dich, Jacques. Das ist doch offensichtlich, oder? Babys trinken nun einmal keinen Gin. Sie mögen ihn nicht. Er bekommt ihnen nicht«,
»Was weißt denn du!«
Jetzt schrie er. War blaß unter der Bräune, schrie,
»Scheiße weißt du! Du hast doch noch nicht mal selber ein Kind«,
Sie stieß ihn zur Seite, verließ die Küche. Lief in ihr Zimmer. Stand dort eine Weile einfach herum, starrte vor sich hin. Starrte auf den Teppich: der blau war, Velour. Dicht wie ein Tierfell, ihr Fuß bürstete blaues Fell gegen den Strich, wieder und wieder, sie sah auf die Uhr. Fürheute war es zu spät, um abzureisen. Sie würde bis morgen früh warten müssen, mit zitternden Fingern suchte sie ihr Badezeug zusammen. Ging durch die Küche hinaus: die nun leer war, Jacques hatte recht: Was wußte sie denn? Was ging sie das Ganze überhaupt an, sie konnte jedenfalls tun, was sie wollte! Und was tat sie dann hier?
In dieser spießigen Eigentumswohnanlage. In Coral Springs: das noch nicht mal am Meer lag, mit einem Jungen, der nicht ihr Lover war, an diesem Pool: der sich auf dem Dach befand, wie es Jacques gesagt hatte, sie breitete ihr Handtuch auf den Fliesen aus.
Setzte die Sonnenbrille auf, blätterte in ihrem Führer mit Fingern, die immer noch zitterten, wo würde sie hingehen? Nach New Orleans vielleicht. Oder lieber nach San Francisco, Minneapolis: in irgendeine Stadt, die nicht in ihrem Führer verzeichnet war, ob Jacques dem Kind noch mehr Gin gegeben hatte?
Sie konnte es nicht mehr schreien hören. Aber vielleicht hatte er ja alle Türen verschlossen. Vielleicht wollte er nicht mehr gestört werden, während er das Kind mißhandelte, und? Überall auf der Welt wurden Kinder mißhandelt.
Wurden gefoltert, getötet, was war im Vergleich mit diesen Qualen ein bißchen Gin? Sina Beatrice Fischer jedenfalls würde die Welt nicht retten. Sie würde noch nicht einmal Maurice retten, was hatte das Kind denn schon zu erwarten, in dieser Welt? In Jacques’ Welt: in die es nun einmal hineingeboren war, es hatte ein ernstes dünnes Gesicht, voller Skepsis. Es sah nicht aus, als würde es viel von der Welt erwarten,
»Kommst du mit zum Einkaufen?«
Er stand auf der Treppe zum Pool. Sah sie nicht an, nesteltean seinem Hosenbund. An der hellblauen Unterhose darüber, er sagte,
»Hey. Jetzt sei doch nicht sauer, Sina. Entschuldige schon, ich wollte dich nicht anschreien«, kam zwei weitere Stufen herauf. Dann noch einmal zwei, stand jetzt neben dem Pool, »Du hast ja recht. Du hast total recht, ich weiß selber, ich mache alles verkehrt. Ich mache immer irgendwas verkehrt, du kannst es mir ruhig sagen. Wenn ich was verkehrt mache«,
Sie antwortete nicht. Sah weg, über den Golfplatz, er sagte,
»Ich bin ja froh, wenn du mir hilfst mit dem Baby. Ich meine, ich kann das alles nicht richtig, ich bin ja keine Frau. Ich würde so gern alles richtig machen, mit ihm«,
Sie verschränkte die Arme. Zog die Schultern zusammen, er sagte: »Ich wollte bloß nicht, daß er noch mal so schreit. Ich wollte nicht, daß du dich über ihn ärgerst, du hast dich doch vorhin schon über ihn geärgert«,
»Quatsch«, sagte sie. »So ein Quatsch, ich wollte ihn bloß beruhigen. Wie kann man sich über ein Baby ärgern, ich wollte nur, daß er sich beruhigt. Und er wollte sich eben nicht beruhigen lassen«,
»Ja«, sagte Jacques. Er nickte,
»Ja, genau. Das ist es eben. Genauso geht es mir doch auch immer mit ihm«,
Eine Weile lang schwiegen sie beide. Dann stand Sina auf und zog
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