Meeresblau
ruhelos.
Sie wusste, dass Christopher die Schuld daran trug. Etwas hatte er in jener Nacht mit der Seele des Mannes angestellt, und dieses Irgendwas würde Nico früher oder später das Leben kosten. Würde sie diesen lebensgefährlichen Teil in Christophers Natur je akzeptieren können?
Seit mehreren Tagen und Nächten saß sie fast ununterbrochen vor den Bildschirmen, um seine Bitte zu erfüllen. Inzwischenwar ihr anzusehen, dass sie ihr Schlafpensum auf ein Minimum beschränkte. Vielleicht war es besser, dass er nicht anwesend war, denn in der derzeitigen Phase der Forschungsarbeit waren der Greifarm und der Ansaugtrichter des Roboters damit beschäftigt, Muscheln und Spinnenkrabben von den schwarzen Rauchern der Tiefsee zu pflücken, Tierchen aller Art einzufangen und Proben zu entnehmen. Ein Umstand, der ihn mit Sicherheit nicht erfreut hätte.
Gestern zu später Stunde hatten sich Jeanne, Alan und sie am Heck des Schiffes zusammengefunden, um mit Christopher zu plaudern. Ausschweifend berichtete er, wie es war, im Farbenrausch des Riffs zu tauchen, in der Strömung zu schlafen, inmitten eines gewaltigen Makrelenschwarms zu treiben oder sich unter Sternen auf den Wellen treiben zu lassen.
Es war eine haarsträubend skurrile Situation, und doch fühlte es sich richtig an, wie sie da standen, an Bord eines hochmodernen Forschungsschiffs, Kaffee aus Pappbechern tranken und mit einem mythologischen Wesen philosophierten, das für den Rest der Menschheit nicht existierte.
„Ich liebe dich.“
Mit dem Zeigefinger berührte sie den blauen Punkt, der sich in zweiundfünfzig Metern Entfernung zum Schiff befand. Wenn er es nicht schaffte, wieder menschlich zu werden, würde er aus eigener Kraft den halben Erdball umrunden müssen. Vermutlich eine Sache von Monaten, vielleicht sogar Jahren. Es gab Strömungen, die die Ozeane durchzogen, doch selbst, wenn er sie zu nutzen wusste, würde seine Reise vermutlich eine Ewigkeit dauern. Viel zu lange. Wie sollte sie das ertragen?
Ihr wurde flau im Magen. All die Gefahren, die dort draußen warteten. Die exorbitante Anzahl der Fischtrawler auf den Weltmeeren und ihre gewaltigen Netze, die ganze Meeresgebiete kahl rasierten und kein Leben übrig ließen. Wenn er dort hineingeriet, würde sein Körper von den unvorstellbaren Massen an Fischen zerquetscht werden. Und falls er überlebte, warteten Glaskästen auf ihn, in denen er eingepfercht den Rest seines Daseins verbringen würde.
Neun Meter.
Maya würgte ihr Kopfkino ab und stürmte in die Kombüse. Nachdem sie sich einen Teller mit belegten Baguettescheiben befüllt hatte, begab sie sich an das Heck des Schiffes, prüfte die Umgebung und beugte sich, als niemand zu entdecken war, über die Reling. Eine helle Gestalt tauchte unter ihr im Wasser auf.
„Hallo Sprotte.“
„Hallo Maya“, kam es zurück.
„Wie geht es dir? Schon Fortschritte gemacht?“
„Nein. Tut mir leid.“
Sie blickte auf ihre belegten Häppchen. „Hast du auch Hunger? Was isst du eigentlich da unten?“
Christopher antwortete mit Schweigen und wirkte, während sie zu essen begann, in hohem Maße unzufrieden. Immer wieder musste er tauchen und schwimmen, um auf gleicher Höhe mit ihr zu sein.
„Hast du es noch nicht herausgefunden?“, hakte Maya nach.
„Mehr oder weniger. Sardellen sind nicht übel“, sagte er zerknirscht. „Muscheln auch nicht. Dann war da noch ein komisches Zeug und etwas, das aussah wie Qualle.“
„Komisches Zeug und Qualle? Lecker. Dann bist du also ein Raubfisch. Das gefällt mir. Friedfisch hätte nicht zu dir gepasst.“
„Warum?“
„Einfach so. Und wie ist das, wenn du … nun ja, die Konsequenz vom Essen?“
„Das geht dich nichts an.“
„Doch“, widersprach sie vehement. „Es geht mich sehr wohl etwas an. Alles, was dich betrifft, geht mich etwas an.“
„Vergiss es.“
„Miesmuschel. Und was ist mit Liebe?“
„Liebe?“
„Naja, du weißt schon. “
Christopher schnaufte konsterniert. „Keine Ahnung! Kannst du einmal nur für ein paar Minuten, die Wissenschaftlerin hinter dir lassen?“
„Das wird schwer. Wo ist dein Fortpflanzungsorgan? Darf ich beizeiten mal nachsehen?“
„Schluss und aus.“
„Okay.“ Sie hielt sich den Bauch vor Lachen. „Willst du was von meinem Essen haben? Aber ich muss dich vorwarnen. Ein paar Scheibchen sind mit Lachs und Forelle belegt. Keine Ahnung, ob du das als Beleidigung auffasst. Oder als Kannibalismus. Aber nein, halt, du hast ja Fisch
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