Meeresblau
Maya war es gleich. Sie war ohnehin durchnässt bis auf die Knochen. Die schwarze Küste verschwand im Dunst der Ferne, Jeanne ruhte in ihren Armen und hatte die Augen geschlossen. Der Vernunftmensch in Maya zweifelte daran, dass Christopher die Rückkehr gelingen würde. Der andere Teil, dominiert von ihrem Herzen, wünschte es sich mit aller Kraft. Aber war es wirklich sein Wunsch, zurückzukehren, oder versuchte er es um ihretwillen? So viel stand zwischen ihnen. So viel sprach gegen sie. Beide Seiten, Verstand und Herz, waren sich jedoch in einem einig: Es war das Wichtigste, dass es ihm gut ging.
Nach und nach verschwand das Land in der Ferne. Alan drosselte das Tempo, um zwischen mehreren Felsen hindurchzuschlüpfen, als eine mächtige Wasserfontäne wenige Meter neben dem Boot in die Höhe schoss.
„Seht nur!“ Maya fuhr hoch. „Das sind Wale. Das sind die drei Buckelwale.“
Alan und Jeanne starrten mit offenen Mündern. Die Tiere waren so nah, dass man jedes Detail ihrer riesigen Körper erkennen konnte. Das Männchen ließ seine Brustflosse auf das Wasser klatschen und gab damit das Signal zum Auftauchen für die beiden Weibchen. Blasfontänen ausstoßend durchbrachen sie die Oberfläche. Ein Regen aus Gischt ging auf das Boot nieder.
„Seht euch das an“, rief Alan. „Wir könnten unsere Hand ausstrecken und sie anfassen.“
Als Maya sich über den Bootsrand beugte, um genau das zu tun, tauchte eine weitere Gestalt aus dem Meer auf. Es war Christopher. Seine wilde Schönheit raubte ihr den Atem und tat zugleich weh.
„Ihr wolltet doch mit ihnen tauchen“, sagte er. „Also kommt.“
„Was?“ Alan stieß ein verblüfftes Schnaufen aus. „Ist das dein Ernst?“
„Ihr habt doch Tauchanzüge dabei.“ Er legte die Hände auf den Bootsrand, feingliedrige, unmenschliche Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern, und musterte die beiden Pressluftflaschen.
„Denkst du wirklich, wir können zu ihnen ins Wasser?“ Alan schien misstrauisch. „Ich meine im Ernst?“
„Ja. Traut euch ruhig.“
Maya beobachtete die Tiere, wie sie friedlich im Wasser schwebten. Eines der Weibchen blickte zu ihr auf. Irrte sie sich, oder war da eine stumme Einladung in ihren Augen? Träge legte sich der Wal zur Seite, sackte ab und tauchte zurück in die Tiefe. Als wollte er sie auffordern, ihr zu folgen.
„Sie hat es dir gerade selbst gesagt.“ Christopher lächelte. „Wenn ihr mit ihnen schwimmen wollt, dann kommt.“
Maya spürte eine gewaltige Sehnsucht. Wie gern wäre sie wie er, um mit ihm gehen zu können. Wie gern hätte sie die Grenze zwischen ihnen überwunden. Ein für alle Mal und endgültig.
„Wir haben nur zwei Tauchausrüstungen.“ Alan war bereits in eine davon geschlüpft. „Verzeiht meinen Egoismus, aber einer muss ohne auskommen.“
Mit einem Freudenschrei sprang er ins Wasser. Ein kurzes Plätschern, ein Wedeln mit den Gummiflossen, und er war abgetaucht.
„Nimm du die andere“, sagte Christopher. „Und keine Angst. Euch kann nichts passieren. Ihr seid kein Krill, nicht wahr?“
„Tz“, machte Maya. „Was ist mit deiner Wunde? Tut es sehr weh?“
Er zuckte äußerst menschlich mit den Schultern. „Es ist auszuhalten. Meerwasser scheint ein gutes Heilmittel zu sein. Und jetzt komm. Sie werden nicht ewig bleiben.“
„Was ist mit Jeanne?“
Er warf seiner Schwester einen liebevollen Blick zu. „Sie wird mit mir kommen.“
„Wie du meinst.“ Maya schlüpfte in den Tauchanzug, schnallte die Flasche um und sprang. Das Blau des Wassers war überwältigend, tief, klar und leuchtend. Durch die Taucherbrille sah sie, wie einer der Wale auf sie zukam, und plötzlich war er so nah, dass ihre Hand über seine Haut strich. Kurzerhand griff sie nach der Finne. Während das Tier sie durch die Tiefe trug, streichelte sie seinen Rücken und berührte die Narben, von denen jede eine Geschichte erzählen konnte aus den jahrzehntelangen Wanderungen durch die Ozeane dieser Welt. Diese Momente wirkten so unwirklich, dass sie fürchtete, nur zu träumen. Ein Buckelwal schwamm mit ihr, als sähe er sie als Teil seiner Welt an, ließ sie hinab in die unauslotbare Tiefe blicken und entfachte trotz aller Entzückung ein Gefühl tiefer Enttäuschung, weil Maya begriff, dass sie niemals ganz eins mit dem Wasser sein würde.
Als der Wal steil abtauchte und laut der Anzeige an ihrem Arm die für Menschen gefahrlose Grenze überschritt, löste sie sich schweren Herzens von ihm. Langsam um
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