Meeresblau
neben sie. „Wir lassen dich gehen. Es ist in Ordnung.“
Vorsichtig nahm Christopher die Hand seiner Schwester. „Habt ihr wirklich gedacht, ich würde euch verlassen?“
„Ja“, sagte Jeanne geradeheraus.
„Das würde ich nie tun. Gut, einen Moment dachte ich darüber nach, aber …“ Er nahm einen tiefen Atemzug. Erschöpfung lag wie ein Schatten über seinen Augen, doch mit jeder Welle, die ihn umspülte, schien mehr Kraft in ihn zurückzukehren. „Glaubt mir, ich könnte euch nie verlassen. Dort, wo ihr seid, ist mein Zuhause.“
Inmitten der stärker werdenden Brandung verschloss Alan die Wunde mit einigen Stichen, was Christopher nicht zu bemerken schien. Während seine Hand Jeannes Finger umschlossen hielt, ruhten seine Augen unverwandt auf Mayas Gesicht, als könnte er nicht realisieren, dass sie hier war. An seiner Seite.
Aus heiterem Himmel schäumte eine hohe Welle über sie hinweg. Alan und Jeanne ergriffen kreischend die Flucht, Maya aber blieb. Ein überwältigendes Schuldgefühl schnürte ihr die Kehle zu.
„Du musst gehen.“
„Ich lasse dich nicht allein“, beharrte er. „Das hatte ich nie vor.“
„Aber es ist besser.“
„Warum sagst du das?“
„Warum?“ Tränen liefen über ihre Wangen. Die Qual wurde noch schlimmer, als sanfte Hände sie fortwischten. „Du hät-test frei sein können. Du hättest verschwinden können, aber wegen mir bist du zurückgekommen. Schon das zweite Mal, und jetzt sieh, was daraus geworden ist. Wegen mir ist das alles passiert. Schau uns doch an, Chris. Du bist kein Mensch mehr. Du kannst in meiner Welt nicht mehr leben. Genauso wenig, wie ich in deiner leben kann.“ Die Worte schnitten in ihr Herz wie ein Messer, doch sie mussten ausgesprochen werden.
„Ich fürchte“, murmelte er nach einigen Momenten des Schweigens, „dass du mich nicht so einfach loswirst. Deine Schwarzmalerei ändert auch nichts daran.“
„Wir sind dir wichtiger als deine Freiheit?“
„Warum sollte ich mit euch an meiner Seite nicht frei sein können? Hört zu“, er griff nach Mayas Händen, „ich weiß, dass ich mich wieder zurückverwandeln kann. Ich muss nur herausfinden, wie es funktioniert. Leg ein paar Sachen für mich zwischen die Container.“
„Du bist doch verrückt.“
„Ich kann wieder Mensch werden. Nicht für lange, aber es wird reichen. Es muss reichen. Vielleicht fällt es mir auch leichter, weil ich nur zur Hälfte ein Fisch bin. Mein Vater war immerhin menschlich.“
Maya wünschte, an seine Worte glauben zu können. Doch wenn sie ihn ansah, erschien ihr seine Hoffnung wie eine Illusion. Wie viele Hoffnungen waren niemals etwas anderes? Sie saß da, umspült von Wellen, und fühlte sich unwirklich. „Es ist deine Entscheidung.“
„Ja, das ist es. Und falls sich irgendwer wundert, erzähle ihnen einfach, ich musste für eine private Sache kurzfristig das Schiff verlassen und steige im nächsten Hafen wieder dazu. Irgendwie bekommen wir das hin.“
Maya stieß ein klägliches Lachen aus. „Es klingt komisch, wenn du Dinge wie ‚wegen einer privaten Sache‘ sagst.“
Christopher grinste, was keineswegs freundlich aussah, sondern seinem Gesicht einen raubtierhaften Ausdruck verlieh. Dann blickte er an ihr vorbei. „Danke für alles, Alan. Vielleicht kann ich es wiedergutmachen. Und Jeanne, hör bitte auf zu weinen. Ich komme so bald wie möglich zurück.“
„Gern geschehen“, rief der Schiffsarzt zurück und hielt das hemmungslos schluchzende Mädchen im Arm. „Und erzähl mir nichts von Schuld, sonst muss ich dich in Bierteig panieren.“
Ein kurzer schweigender Blick, ein Lächeln, das Christopher Maya noch schenkte, dann tauchte er in der nächsten Welle unter. Zurück blieb bittersüßer Schmerz, an dessen Ende neue Hoffnung stand.
„Ich glaube das alles nicht.“ Alan schüttelte konfus den Kopf, als sie sich zu ihm und Jeanne gesellte. „Er kann doch nicht einfach wegschwimmen. Das war eine mittelschwere Operation und kein Splitter im Zeh. Unglaublich. Du sag mal, er will doch wiederkommen, nicht wahr?“
„Ja. Will er.“
„Gut. Ich muss ihn nämlich unbedingt noch mal sehen. Und hemmungslos ausfragen. Zu ungefähr eine Million Dingen.“ Alan schulterte seinen Rucksack und grinste. „Immerhin habe ich jetzt ein Märchen, das ich meinen Kindern erzählen kann. Sofern ich je welche adoptieren sollte.“
Unter dem finsteren Himmel schimmerte das Meer in unwirklichem Türkis. Regen tröpfelte auf sie herab, doch
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