Meeresblau
fahren. Aber es kann auch schiefgehen. Meine Bedenken seien hiermit angemeldet, alles andere ist deine Entscheidung als Expeditionsleiterin.“
„Ich schlage vor, wir fahren weiter.“ Christopher zwinkerte ihr unauffällig zu. „So schlimm dürfte es nicht werden.“
„Es ist die Entscheidung aller an Bord“, sagte sie dennoch. „Mach bitte mal eine Durchsage, Richard. Jedermann möge sich postwendend im Aufenthaltsraum einfinden.“
Der Meteorologe verschwand, die Stille ihrer intimen Zweisamkeit kehrte zurück. Und dann gelang es ihr endlich, die drängendste ihrer Fragen auszusprechen: „Was hast du mit Nico getan?“
Christopher blickte stur auf den Bildschirm. Anscheinend wollte er den Hai ein wenig mit dem Greifarm ärgern, doch das Tier wandte sich gelangweilt ab und verschwand mit trägen Schlägen seiner Schwanzflosse in der Finsternis.
„Ich habe seine Seele genommen“, sagte er dann. „Er wird sterben. Die Sehnsucht nach dem Meer frisst ihn auf.“
„Weil seine Seele bereits dort ist?“
„Ja.“
„Wie?“ flüsterte sie. „Wie hast du es getan?“
Er seufzte. Es war nicht zu übersehen, dass dieses Thema ihm nicht behagte. „Ich kann es nicht erklären. Meine Erinnerung daran ist nur blass. Als wäre es ein Traum gewesen. Ich war wütend, geschwächt und hatte mich nicht unter Kontrolle. Es war so eine Art …“, er schien nach dem richtigen Wort zu suchen, „Instinkt. Alles, was ich noch weiß, hat etwas mit einem Licht zu tun. Mit einem Licht aus seinem Körper, das ich gewissermaßen trank. Ich saugte es in mich auf.“
„Das Blut des Meeres fließt in uns allen“, sprach Maya in Erinnerung an ein altes Gedicht. „Wer kann seinem salzhellen Ruf widerstehen, wenn er einmal erklingt? Ich träumte von Tangwäldern und flüsterndem Wasser. Ich träumte vom Lied der See.“
Christopher sah sie auf eine sehr seltsame Art an. „Was sind das für Worte?“
„Ich habe sie gelesen“, antwortete sie. „Vor langer Zeit. Ich glaube, es stand in einem Buch, das White Elk mir geschenkt hat.“
Einstimmig entschied man sich dafür, die Fahrt fortzusetzen. Nach kurzer Aufregung kehrte wieder Routine ein, und schon am Morgen nach der Ankündigung des drohenden Unheils war jeder zu beschäftigt, um sich über Stürme Gedanken zu machen. Heller Sonnenschein ergoss sich an diesem Vormittag über das Meer und täuschte Freundlichkeit vor. Während Christopher im Technikraum die Stellung hielt und dafür sorgte, dass das Manganknollenfeld ungesehen umschifft wurde, pflückte Maya mit Alan und Jeanne Proben aus dem Bob, schnitt die Zylinder in zwei Hälften und zerteilte die faulig stinkenden Sedimente aus dem Ozeanboden in zentimetergroße Stücke. Sie versetzten die Proben mit Ethanol, um sie zu konservieren, fügten Bengalrosa hinzu, damit sich das lebende Gewebe im Schlamm einfärbte, und brachten das Ganze in den Kühlcontainer.
Im Ergebnis von mehreren Stunden, die sie mit dieser Arbeit verbrachten, verwandelte sich das Rot ihrer Overalls in schmutziges Braun. Ihre Hände färbten sich rosa und eine Aura aus fauligem Gestank umgab sie.
„Es ist so weit.“ Alan klatschte in die Hände, als sie die letzte Probe versorgt hatten. „Wir gehen jetzt Kanister schütteln.“
„Kanister schütteln.“ Maya klatschte in die Hände. „Was nimmst du?“
„Freestyle. Und du machst mir wieder die ausgeflippte Schamanin.“
„Meinetwegen. Jeanne, kommst du mit?“
Das Mädchen blickte zu ihnen auf. Die Miene der besessenen Schlammwühlerin gelang ihr bereits in Perfektion. „Nein, macht ihr nur. Ich kämpfe mich noch ein bisschen durch den Gestank der Jahrtausende.“
„Das ist genau dein Ding, was? Die Meeresbiologie.“
„Vielleicht.“ Jeanne lächelte dürftig, schnappte sich den nächsten Kern und zerschnitt ihn mit verbissenem Gesichtsausdruck in zwei Hälften.
„Na komm, Alan. Ab ins Labor.“
Zwei Studenten waren bereits damit beschäftigt, die mit Meerwasserproben gefüllten Kanister zu schütteln. Eine Aufgabe, die zu den amüsantesten Tätigkeiten an Bord gehörte, sofern man über ein gewisses Maß an Temperament verfügte. Um den begehrten Stoff Neodym aus dem Wasser zu gewinnen, wurde es angesäuert, mit Eisen geimpft, homogenisiert, auf einen bestimmten PH-Wert eingestellt und erneut homogenisiert, wobei dieser Vorgang aus schlichtem Schütteln der Kanister bestand.
„Hallo Leute.“ Alan schnippte mit den Fingern. „Ihr könnt hochgehen und den anderen
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