Meeresblau
ihr das Gefühl, eins mit allem zu sein. Lebendig. So intensiv zu leben, als jagte ein Drogencocktail durch ihren Körper.
Maya hakte ein Bein in die Reling ein und knöpfte ihr Hemd auf. Fast riss der Sturmwind es ihr vom Leib, als sie die Arme ausstreckte und sich dem Toben der Elemente auslieferte. Gischt durchnässte ihr dünnes Unterhemd. Sie hörte sich lachen, als eine monströse Welle gegen das Schiff krachte und Wolken aus salzigem Wasser über sie ausspie. Es rann über Gesicht und Brust, brannte in den Augen und ließ die Geschmacksnerven ihrer Zunge prickeln. Sie wollte mehr. Sie wollte hineingerissen werden in diesen Mahlstrom ungezügelter Gewalt, wollte ganz zerrissen werden, neu entstehen und alles Menschlichehinter sich lassen, um so zu werden wie er.
„Tsi ge yu i!“, schrie sie gegen das Brüllen des Unwetters an. „Tsi ge yu i!“
Das Verlangen, ungeachtet aller Gefahren in das Wasser zu springen, wurde schmerzhaft. Christopher würde zu ihr kommen. Er würde sie an sich pressen, sie küssen und ihr das Gefühl absoluter Sicherheit vermitteln. Oben im Technikraum leuchtete warmes Licht. War er allein? Vielleicht sollte sie zu ihm gehen und …
Ein lautes Lachen durchdrang das Brüllen des Sturms. Maya glaubte, Jeannes Stimme zu erkennen. Sie folgte dem Laut, konnte nur mühsam das Gleichgewicht wahren und sah eine Sturmfee am Bug des Schiffes stehen.
Das war sie, in ein langes Kleid gehüllt, das im Flutlicht des Decks saphirblau und petrolgrün schillerte. Ihr offenes Haar flatterte in den Böen. Für Momente umgab sie die Aura eines sagenhaften Wesens.
„Hallo Maya.“
Jeanne hielt sich an einem jungen Mann fest. Neben den beiden stand ein Mädchen mit schwarzem, geflochtenem Zopf, dessen Name, soweit sie sich erinnerte, Clara lautete. Alle drei wandten sich ihr zu.
„Ist das nicht wunderbar?“
Sie wollte soeben antworten, als ein unmöglicher Anblick sie erstarren ließ. Eine gewaltige Wand aus Wasser raste auf das Schiff zu, größer als alle Wellen zuvor. Sie würde das gesamte Deck überspülen.
„Verschwindet!“, brüllte sie. „Sofort!“
Die Drei fuhren herum und gefroren zur Salzsäule. Für die Dauer eines Herzschlags ragte die Wasserwand über dem Schiff auf. Ein gewaltiger Schlag traf den Stahlkoloss. Gischt spritzte auf. Mit brachialer Wucht ergoss sich die Welle über das Deck. Der Junge und die beiden Mädchen wurden von den Füßen gerissen. Ihre Körper schleuderten auf Maya zu und glitten an ihr vorbei, zu schnell, als dass sie nach ihnen hätte greifen können. Dann wurde auch sie zu Boden gerissen. Für die Dauer eines endlosen Moments schienen titanische Fäuste ihren Körper zermalmen zu wollen. Sie krachte gegen die Reling, klammerte sich fest und hörte ihren eigenen Schrei das Toben der Elemente durchdringen. Der Wasserschwall rauschte über das Deck, endete so schnell, wie er gekommen war. Einer der Container löste sich aus der Halterung und krachte gegen das Eisengeländer. Kreischend stemmte sich der Kran gegen die Schrauben, die ihn mit dem Deck verankerten. Mayas Schultergelenke fühlten sich an, als hätte die Kraft des Wassers sie ausgekugelt.
„Jeanne! Clara!“, brüllte eine Stimme. „Oh mein Gott, nein! Nein!“
Sie spähte in die Finsternis und zitterte derart, dass es ihr nicht gelang, aus eigener Kraft aufzustehen. Wenn die Welle die Mädchen mitgerissen hatte, konnte ihnen niemand mehr helfen, nicht einmal Christopher. Der Sturm war zu einem brüllenden Orkan geworden. Salzwasser brannte in ihren Augen. Jemand packte ihre schmerzenden Schultern und schüttelte sie.
„Sie sind weggespült worden.“ Es war die Stimme des jungen Mannes, schrill vor Angst. „Jeanne und Clara. Sie sind im Wasser.“
Ihr Körper reagierte wie eine Maschine. Sie stemmte sich auf die Füße und beugte sich über die Reling. In den Wellen trieben zwei winzige Körper, wurden unter Wasser gezogen, tauchten wieder auf und schrien um ihr Leben.
„Haltet durch!“, brüllte Maya. „Wir holen euch rauf.“
Zwei Rettungsringe hingen an der Wand hinter ihr. Hastig riss sie sie aus der Halterung, warf sie ins Wasser und musste zusehen, wie die Körper der Mädchen abgetrieben wurden. Weg von den Ringen.
Tumult brach auf dem Schiff aus. Menschen umschwirrten sie plötzlich, eine Gruppe Matrosen rannte zum Kommando-Raum hinauf. Der Alarm schrillte. Wie in jener Nacht, da sie zu Christopher ins Wasser gesprungen war und damit fast seinen Tod verschuldet
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