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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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sich an unterseeischen Bergen und Vulkanen und wiesen ihnen die Richtung. Vermutlich handelte es sich um Magnetfeldlinien. Hätte sich Mayas Verlust nicht wie ein Eispanzer um seine Seele gelegt, wäre er von der Tatsache, dass er sie als feinen, elektrischen Sog wahrnehmen konnte, wohl zutiefst fasziniert gewesen. Stattdessen versuchte er mit der Emotionslosigkeit einer Maschine, sich mithilfe unsichtbarer Markierungen zu orientieren. Nirgendwo fühlte sich das Wasser gleich an. Mal war es voller Energie, mal schal und leblos. In der einen Gegend schmeckte es bitter, in der anderen hinter dem allgegenwärtigen Salz süßlich. Mal war es kalt, mal warm, und hin und wieder sickerte ein besonders intensives, elektrisches Gefühl durch seinen Körper, das sich in seinem Gehirn konzentrierte. Offenbar besaß er wie viele wandernde Tiere zu Wasser und in der Luft ein winziges Metallkörnchen in seinem Kopf, das ähnlich wie ein Kompass funktionierte und für eine tadellose Orientierung sorgte, unabhängig von den Zeichen des Himmels. Nach und nach begriff Christopher das Gefüge der Ozeane. Es glich einem gigantischen, komplexen Bild, das in seinem Kopf entstand und mit jedem Sinneseindruck detailreicher wurde. Eine Landkarte voller Flüsse, Gebirge und Schluchten, unsichtbaren Linien aus Energie und Zonen aus kaltem und warmem Wasser.
    Es verging kaum ein Tag, an dem ihnen keine Schiffe begegneten. Riesige, lärmende Kolosse, schwimmende Fischfabriken oder hell erleuchtete Kreuzfahrtschiffe durchpflügten das Wasser und versetzten seine Artgenossen in Panik. Regelmäßig verfielen sie in kopflose Hektik, schrien und jammerten durcheinander und versteckten sich auf dem Grund des Meeres, wo sie sich erst nach Energie raubend langen Aufmunterungen wieder hervorlocken ließen.
    Christophers Geduld hing an seidenen Fäden. Diese Geschöpfe waren mit ihrer Befreiung überforderter, als er erwartet hatte. Manchmal zweifelte er gar, dass überhaupt noch ein Rest ihrer einstigen Stärke überlebt hatte.
    Erst, als nach vielen Tagen eine Strömung vor ihnen auftauchte, verspürte er einen Hauch Erleichterung. Nach so langer Zeit des Nichts erschien ihm die hier existierende Fülle des Lebens wie eine Wohltat. Der Walbulle verfiel in freudigen Gesang, den die Weibchen mit einer Frequenz beantworteten, die selbst für seine Sinne nicht zu hören, sondern nur zu fühlen war. Hier, wo das strömende Wasser Nährstoffe mit sich brachte, pulsierte das Leben. Hungrig fielen die Buckelwale über eine Krillwolke her und durchsiebten sie mit ihren Barten. Wirbelstürme aus silbernen Fischen tanzten im Blau, verfolgt von den allgegenwärtigen Jägern der Hochsee. Fächerfische schossen heran wie dunkle Pfeile. Ihre Körper verfärbten sich, als sie die einzelnen Schwärme zusammentrieben wie Schäfer ihre Herde, um schließlich in rauschhafter Gier über sie herzufallen. Hellblaue Streifen leuchteten auf ihrer Haut, Flossensegel stellten sich auf, verwirrten die Fische und versetzten sie in Panik, die Christopher als unangenehme Schärfe aus dem Wasser herausschmeckte.
    Während die Buckelwale ihren Hunger stillten, sahen er und seine Begleiter dem Spiel der Jäger zu. Es glich einem Tanz, einem Orkan aus schillernden Fischkörpern, der wie eine Einheit reagierte und mit verblüffender Präzision immer wieder neue Formen bildete. Die Jäger ließen sich durch dieses Verwirrspiel nicht täuschen. Wie Blitze zerschnitten sie die Schwärme, setzten ihre schwertartig verlängerten Oberkiefer als Keulen ein und schlugen Fische aus dem Verband heraus. Auch Christophers Magen knurrte. Seit Tagen hatte er nichts zu sich genommen, doch erst angesichts dieses Fressrauschs machte sich dieser Umstand als ziehende Leere bemerkbar. Vorsichtig näherte er sich den umherwirbelnden Tieren, die ihn nicht als Feind zu erkennen schienen, wartete, bis einer der Jäger zuschlug, und schnappte sich das vom Schwarm getrennte Opfer. Eine blitzschnelle Drehung mit der Hand, und der Kopf des Fisches sank taumelnd in die Tiefe. Genüsslich verspeiste Christopher seine Beute, während hungrige Blicke in seinem Nacken prickelten.
    „Warum geht ihr nicht selbst jagen?“, fragte er seine Artgenossen. „Wie habt ihr euch sonst da unten ernährt?“
    Die Antwort erhielt er als Bilder in seinem Kopf. Seegurken, Muscheln, Schnecken. Alles, was in der Tiefe lebte und langsam genug war. Wie entwürdigend. Seine Aufgabe würde noch schwieriger werden als gedacht. Als Hände

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