Meeresblau
Cals Hilfe suchender Blick ging ihm in seiner Intensität durch Mark und Bein. „Besser, ich lerne eure Welt kennen, als du meine. Könnten Menschen unsere Gedanken verstehen?“
„Nein.“ Sein Freund schien nicht sicher zu sein. „Wenigstens gab es nie einen Menschen, der unsere Sprache verstanden hat.“
„Und hat niemand von euch je einen Menschen geliebt?“
Lange dachte Cal darüber nach. Und als er schließlich antwortete, verrieten die ins Wasser strömenden Gefühle, dass er seinen eigenen Worten nicht glaubte. „Nein, niemals.“
„Warum fühlst du dann Trauer?“
„Manche von uns haben in ihrem Leben als Mensch geliebt.“ Er schien die Fähigkeit, Gefühle wittern zu können, insgeheim zu verfluchen. „Aber entscheiden wir uns für das Meer, erlöschen diese Gefühle. Keine sterbliche Liebe hält dem Ruf unserer wahren Natur stand. Niemals. Land und Wasser bleiben immer unter sich.“
„Glaubst du wirklich, dass es so einfach ist?“
Christopher spürte eine Vielzahl an Widersprüchen, die in seinem Freund um die Vorherrschaft kämpften, und plötzlich wurde ihm bewusst, wie ähnlich sie sich wirklich waren. Dieses Wesen war so, wie er eines Tages sein würde. Gequält von Erinnerungen, die ihn für immer in zwei Hälften rissen.
„Nein“, antwortete Cal schließlich. „Ist es nicht.“
Viele Tage folgten sie dem Strom, bis er sie eines sonnigen Nachmittages an einem Unterwasserberg vorbeiführte. Über ihnen zog ein Schwarm Hammerhaie vorbei, wie schwarze Geister vor der lichtglänzenden Oberfläche, doch von ihnen drohte keine Gefahr. Sie waren satt gefressen und verschwanden geruhsam in der Ferne, ohne ihnen Beachtung zu schenken.
Steile Felshänge leiteten die Tiefseeströmungen nach oben und brachten in der sonst leeren Hochsee einen Überfluss an Nahrung hervor, die Lebewesen aller Arten anlockte. Doch die großen Jäger kamen nicht nur, um zu fressen. Zwischen den Felsen und Korallenbänken wimmelte es vor kleinen, bunten Fischen, die nur darauf warteten, ihre von Parasiten geplagte Kundschaft blank zu putzen. Ein Dienst, den sich auch die Buckelwale nicht entgehen lassen wollten, auch wenn die Putzerfische bei Weitem zu klein waren, um sie befriedigen zu können. Schnaufend durchbrachen die Tiere die Oberfläche und legten sich auf die Seite, woraufhin Dutzende der auf den Felsen nistenden Möwen angepaddelt kamen und mit ihren Schnäbeln die dicke Walhaut bearbeiteten.
„Komm“, sagte Cal in seinem Kopf. „Ich will dir etwas zeigen.“
Während ihre Artgenossen es vorzogen, in einer Höhle Unterschlupf zu suchen und dort auszuruhen, folgte Christopher seinem neuen Freund hinaus in die Landschaft aus korallenbewachsenen Felsen. Es war herrlich, durch bunt blühende, lichterfüllte Schluchten zu tauchen, in denen das Leben einen rauschhaften Höhepunkt fand. Rochen scharten sich um sie, zutraulich wie Katzen an Land, umfächelten sie mit ihren flügelartigen Flossen und knabberten an ihrer Haut. Was Christopher anfangs entzückte, wurde bald lästig. Cal brach mithilfe seiner krallenartig verlängerten Fingernägel ein paar Muscheln auf und fütterte die Tiere mit deren Fleisch, was zur Folge hatte, dass deren Zutraulichkeit noch hartnäckiger wurde. Umgeben von einem ganzen Schwarm aus bettelnden Rochen schwammen sie weiter und glitten über eine Landschaft aus seltsam geformten Felsen hinweg, die sich wie Säulen zur Oberfläche streckten.
Erinnerungen formten sich in seinem Geist. Bilder eines prächtigen Inselstaates mit Palästen, Gärten und Palmen im Wind. Er sah exotische Tempel, dunkelhäutige Menschen mit Blumen im Haar und bunte Vögel in einem wild wuchernden Dschungel. Nie gab es Hunger, denn die Netze der Fischer waren stets gut gefüllt. Nie gab es Elend und Krankheit, denn der Schutz des Meeres lag über jedem Mann und jeder Frau. Muscheln und Edelsteine verarbeitete man zu wunderschönen Schmuckstücken und legte sie an den Strand.
Opfergaben für die Götter des Meeres.
Waren Menschen zu alt geworden, um leben zu wollen, gingen sie furchtlos in das Meer und überantworteten ihre Seele der Tiefe. Lächelnd nahmen sie den Tod entgegen, gehalten von den Armen der Wesen, die sie verehrten, und wurden sanft in die andere Welt hinübergetragen.
In seiner Erinnerung sah er eine Zeit des Friedens, eine Epoche der Gemeinsamkeit zwischen Land und Meer. Doch dann geschah etwas. Eine Gruppe junger, übermütiger Männer überraschte am Strand ein Mädchen und
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