Meeresblau
sein Wissen hervor und tauschte Empfindsamkeit gegen emotionslose Kühle. Wo gab es einen Ort, an dem seinesgleichen sicher waren? Wohin konnte er sie bringen? Seine Erinnerungen gaben ihm schnell eine Antwort.
Die Phoenixinseln …
Eine von drei Inselgruppen des Inselstaates Kiribati, aus acht zumeist unbewohnten Atollen bestehend. Das größte Meeresschutzgebiet der Welt, ein lichtdurchflutetes Paradies voller Riffe, Lagunen und Sandbänke. Er selbst hatte in seiner Zeit als Mensch daran mitgewirkt, dass das Schutzgebiet im Jahr 2008 auf über vierhundertzehntausend Quadratkilometer erweitert wurde.
Als er seinen Ruf in die Tiefe hinabsandte, erhielt er fast augenblicklich eine Antwort.
Wir kommen … wir kommen zu dir
…
Nur zögernd tauchten seine Artgenossen auf, als wäre es ein wahrer Kraftakt, ihren Graben zu verlassen. Während er auf sie wartete, rief er sich Bilder ins Gedächtnis. Die markante Form der verschiedenen Atolle, die Form der Inseln und besondere Merkmale der Topografie des Meeresbodens. Nach wie vor schien sein Gedächtnis blendend zu funktionieren. Aber funktionierte es auch blendend genug, um ihn durch die unermesslichen Weiten des Pazifiks zu lotsen?
Bald kamen sie zu ihm, acht verschreckte Wesen, die sich säuselnd und flüsternd um ihn scharten, halb panisch ob der bevorstehenden Reise, halb freudig, weil sie so nah vor einem neuen Leben standen.
„Vertraut mir“, sagte er zu ihnen. „Ich bringe euch an einen Ort, an dem ihr sicher seid.“
„Weit weg“, zischte eines der männlichen Wesen, das offenbar die Bilder in seinem Kopf gesehen hatte.
Für die Augen schien er jung zu sein, doch in seinen Gedanken spürte Christopher einen uralten Atem. Flüchtige Bilder wurden ihm von seinem Gegenüber zugetragen, die an seine eigene Heimat erinnerten. Eine raue, sturmumwehte Insel. Hütten aus Birkenrinde, die sich unter einen düsteren Himmel kauerten. Schiffe mit Drachenköpfen und prächtigen Holzschnitzereien. Jede Erinnerung ein Relikt aus einem früheren Leben, dass dieser Mann wie er als Mensch verbracht hatte. Christopher wollte ihn nicht ansehen, denn seine tiefdunklen Augen und das schulterlange schwarze Haar erinnerten ihn an die Frau, die er verloren hatte.
„Zu weit weg. So viel Lärm da draußen. So viele Menschen.“
„Ich weiß, aber ihr müsst es wagen. Vertraut mir. Kennst du den Weg zu den Inseln?“
„Lange her“, antwortete der Mann. „Ich weiß es nicht mehr. In meinem Kopf ist nichts mehr wie damals. Fühlt sich an wie Meeresschlamm.“
Aus der Ferne tauchten die drei Buckelwale auf. Der Bulle, alt und weit gereist, hatte die Bilder in Christophers Kopf empfangen und vermittelte ihm den Wunsch, sie dorthin zu begleiten. Nur zu gern gab er dem Tier seine Einwilligung. Nicht nur, weil er selbst seinem Orientierungssinn noch nicht vollständig vertraute, die Aussicht, von den Walen begleitet zu werden,schien zudem für mehr Mut und Entschlossenheit bei seinen Artgenossen zu sorgen. Der Mann mit den schwarzen Augen schwamm zu den anderen zurück und schien sie in ein stummes Gespräch zu verwickeln. Die Streifen und Sprenkel auf ihren Fischleibern leuchteten auf oder wurden blasser, veränderten ihr Muster oder pulsierten in sich verändernden Rhythmen. Möglicherweise eine Art von Kommunikation, deren Sinn und Zusammenhänge er noch begreifen musste.
Schließlich, nach langem Hin und Her, schien man sich einig zu werden.
„Wir folgen dir“, sagte der Mann. „Wohin auch immer du uns führst.“
Es war erleichternd, die Reise endlich antreten zu können. Nicht nur wegen der Aufgabe, die er erfüllen wollte, sondern vor allem, um vor seinen Gedanken und Erinnerungen zu fliehen. Als er sich an der Finne des Wals festhielt und dem Tier bedeutete, in Richtung der sinkenden Sonne zu ziehen, fand sein altes Leben ein endgültiges Ende. Es war ein schreckliches, herrliches Gefühl. Berauschend und doch grausam. Der Bulle tat, wie ihm geheißen, zunächst mit gemächlichen Schlägen seiner Fluke, doch bald schneller, als ihn die angeborene Lust auf Wanderschaft packte.
Langsam verschwand Mayas Nähe aus seiner Wahrnehmung. Ihre Wärme verblasste, und zurück blieb ein Gefühl von Einsamkeit.
Viele Tage durchquerten sie eine Wüste aus Wasser. Hier im offenen Ozean existierte kaum Leben. Es umgab sie nichts außer gnadenloser Unendlichkeit, in der selbst gewaltige Tiere wie die Wale winzig erschienen. Bahnen aus Energie durchzogen den Ozean, bündelten
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