Meeresblau
den Färöer-Inseln nicht gelungen war, gegenüber den Schlächtern beherrscht zu agieren. Zwei Tage in einem Gefängnis waren die Folge der Prügelei gewesen. Er und seine Mitstreiter hatten sie klaglos abgesessen, ohne den leisesten Anflug von Reue, doch mit einem Gefühl tief gehender Resignation. Furchtbare Dinge geschahen überall und jederzeit, und nach dem Erlebnis auf den Färöer-Inseln war er von dem Gefühl übermannt worden, an all den Übeln, die diese Welt Tag und Nacht erfüllten, zusehends zu verzweifeln. Christopher verlor sich in Erinnerungen und begriff im Nachhinein, warum seine Eltern angesichts der Nachricht, dass man ihn inhaftiert hatte, derart aufgebracht gewesen waren. Es musste teuer und aufwendig gewesen sein, die Adoption zu ermöglichen und ihm eine falsche Identität zu beschaffen, doch ganz gleich, wie sorgfältig dieselbe ausgeklügelt gewesen sein mochte – einer intensiveren polizeilichen Überprüfung hätte sie vermutlich nicht standgehalten. In Gedanken daran befiel ihn ein solches Übermaß an Dankbarkeit und Liebe, dass es ihn schier zerreißen wollte.
Mitfühlend strich Cal mit einer Hand über seinen Rücken. „Warum hängst du so an ihnen?“, fragte er. „Warum tut es dir so weh, ihre Welt hinter dir zu lassen? Sie sind grausam. Sie töten das Meer und sie wollten dich töten.“
„Warum ich an ihnen hänge? Die Frau, die du in meinen Gedanken gesehen hast, würde genauso wie ich oder meine menschliche Schwester ihr Leben für das Meer geben. Meine Eltern opferten sich für mich auf, obwohl sie wussten, dass ich nicht ihrer Welt angehöre. Sie waren immer für mich da, in jeder Hinsicht. Deswegen hänge ich an ihnen.“
„Warum spüre ich dann soviel Angst dort oben?“ Cals Blick war von sanftem Ernst. „Wenn ich auf Gefühle aus eurer Welt höre, ist da nur Gewirbel. Kein Ziel, keine Ordnung. Nur Angst und Wut.“
Christopher dachte lange über eine Antwort nach. Um seinem Freund sämtliche Zusammenhänge zu erklären, fehlten ihm die Worte und der Wille. Mehr schlecht als recht versuchte er, das Problem grob zu umreißen: „An Land halten Wenige die Macht in der Hand, und meistens sind es Dummköpfe, die nur eins im Kopf haben. Noch mehr Macht. Dafür gehen sie über Leichen. Viele Menschen haben mit mir gegen das gekämpft, was ich dir gezeigt habe. Aber wir waren nicht stark genug.“
„Wenige herrschen über viele gegen ihren Willen? Wie geht das?“
„Mit Angst“, antwortete er. „Mit Lügen und falschen Versprechungen. Es ist schwer zu erklären.“
Cal warf ihm einen unergründlichen Blick zu und schwamm weiter, dachte nach über das, was ihm gesagt und gezeigt wordenwar.
„Würdest du mich verstehen“, fragte Christopher nach einer Weile, „wenn ich laut mit dir sprechen würde?“
„Du meinst wie Menschen? Grunzend und stöhnend?“
„Ja.“
„Ich würde dich nicht verstehen.“
„Und warum tust du es gerade?“
Cal warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, als könnte er nicht glauben, dass man ihm eine solche Frage stellte. „Weil du in der Sprache des Meeres redest.“
„Aber ich habe sie nie gelernt.“
Jetzt erntete er ein ungläubiges Seufzen. „Du wurdest mit dem Wissen geboren. So wie Tiere von Geburt an Dinge wissen, die zu ihrem Leben gehören. Es geschieht von selbst, wenn du deine Gedanken mit mir teilst. So, wie du von allein atmest. Soviel Mensch ist noch in dir. Ihr tut seltsame Dinge. Dumme Dinge. Warum? Das gefällt mir nicht.“
„Damit musst du leben.“ Die Sticheleien über seine menschliche Seite stimmten ihn langsam ärgerlich. „Ich bin erst seit ein paar Tagen hier bei euch. Ihr könnt nicht erwarten, dass ich mein früheres Leben einfach so vergesse. Du wirst es nicht glauben, aber manche der dummen Dinge, wie du sie nennst, tat ich gerne. Hast du schon mal Schokolade gegessen? Kennst du Musik, Pfefferminztoffees, Flanellbettwäsche und heiße Duschen? Hast du dir schon mal in der Altstadt von Edinburgh die Nacht um die Ohren geschlagen oder eine Frau, die du über alles liebst, im Regen auf dem Balkon eines Hotels geliebt?“
Cal starrte ihn verwirrt an. „Schlechte Gedanken in meinem Kopf“, murmelte er reuevoll. „Es tut mir leid. Du musst wie wir alle nur lernen. Aber das, was ich in deinem Kopf sehe, ist so … “ er schien nach einem unverfänglichen Wort zu suchen, „seltsam, wie ihr sagen würdet? Viele deiner Worte kenne ich nicht. Ich sehe die Bilder dazu, aber …“
„Schon gut.“
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