Meeresblau
ihr Schiff zuraste, war höher als jede Flutwelle. Sehr viel höher.
„Eine weiße Wand“, wisperte Maya. „Das ist es. Das hat Chris ausgelöst.“
Schaum floss vom Kamm der Welle herab und verwandelte sie in das, was ihr Name umschrieb. Eine weiße Wand, gut vierzig Meter hoch. Rasend schnell kam sie näher, zornig und unaufhaltsam. Ihr Rauschen übertönte alles. Menschen schrien. Rannten kopflos durcheinander. Christopher, inzwischen in menschlicher Gestalt, wurde von zwei Männern festgehalten, die versuchten, ihn unter Deck zu ziehen.
„Springt!“, schrie er Maya zu. „Springt ins Wasser!“
Er versetzte dem Mann links einen Schlag mit dem Ellbogen, kam frei und schleuderte den Zweiten beiseite. Zu spät.
Die gigantische Welle hob das Schiff an. Maya verlor den Boden unter den Füßen, stürzte und klammerte sich in letzter Sekunde an der Reling fest. Von einer gewaltigen Kraft emporgetragen glitt die Astero in die Höhe, überragt vom schäumenden Ozean. Das Schiff erklomm die Welle, Meter für Meter, dem Mahlstrom entfesselter Urgewalt ausgeliefert, bis es so steil stand, dass Maya hilflos über der Tiefe baumelte. Hinter dem Tosen des Wassers und dem Stöhnen des Schiffes hörte sie die Schreie der abstürzenden Menschen. Neben ihr hingen Alan und Solander.
Nach wenigen Augenblicken stand die Astero nahezu senkrecht. Christopher war nirgendwo zu sehen. Vermutlich war er längst im Wasser. Vielleicht würde das Schiff nicht kentern, sondern an der Wand hinabgleiten. Eine letzte, idiotische Hoffnung. Schäumende Gischt ergoss sich über sie und strafte diese Hoffnung Lügen. Ihre Augen brannten, die Muskeln ihrer Arme verkrampften sich. Solander kreischte, ein von nackter Panik kündender Laut, der sich abrupt entfernte und vom Donnern der Welle verschluckt wurde. Er war abgestürzt.
Als dieser Gedanke sie erreichte, überwältigte sie eine seltsame Ruhe und Klarheit. Sie würde sterben. Alles würde hier und jetzt sein Ende finden, um irgendwo neu zu beginnen. Ihre Muskeln schmerzten derart, dass es kaum mehr zu ertragen war. Ja, hier endete alles. Er würde sie in seine Arme schließen und ihre Seele befreien.
So, wie es ihr Schicksal war.
Ihre Finger gaben nach. Das Schiff neigte sich zur Seite, stöhnte wie ein sterbendes Monstrum. Es hatte den höchsten Punkt der Welle erreicht und wurde von der Schwerkraft wieder zurückgezogen. Wie in Zeitlupe stürzte der Koloss. Ihre Finger lösten sich vom Geländer. Millimeter für Millimeter. Und dann fiel sie. Stürzte auf das Meer zu, fiel und fiel, bis sie glaubte, für immer zwischen Himmel und Wasser zu schweben. Es folgte ein heftiger Aufschlag, der sie jeden Knochen im Leib spüren ließ. Alles war ein Rauschen, Gurgeln und Wirbeln. Sie war unter Wasser, doch ihr blieb kaum Zeit, diesen Umstand zu registrieren. Mit ohrenbetäubendem Donnern schlug das Schiff auf der Oberfläche auf. Es würde sie zermalmen. Die unvorstellbaren Kräfte des Wassers rissen ihren Körper mit. Wirbelnde Fluten schleuderten sie herum, zogen sie hinab in die Finsternis, bis sie glaubte, ihr Körper müsse zerbrechen. Es dauerte ewig und doch nur einen Moment, bis etwas Helles auf sie zuschoss, aufleuchtend wie ein Geist. War sie zuvor mit aller Gewalt nach unten gezogen worden, so riss sie nun etwas hin zur Oberfläche.
Luft! Endlich Luft!
Hustend rang sie nach Atem, während ihr Retter wieder verschwand. Eben noch hatte sie dem sicheren Tod ins Auge geblickt, jetzt trieb sie wie ein Korken auf den Wellen und wurde hinauf- und wieder hinuntergehoben. Zu leben fühlte sich unwirklich an. Wie eine flüchtige Illusion. Etwa zehn Meter neben ihr trieb Solander. Sie wollte gerade zu ihm schwimmen, als Alan mit röchelndem Schnaufen neben ihr auftauchte. Wieder erhaschte sie nur einen kurzen Blick auf Christoper, der augenblicklich wieder in der Tiefe verschwand.
„Das Schiff ist abgesoffen“, sagte Alan. „Heiliges Kanonenrohr! Das ganze Schiff ist abgesoffen.“
Maya drehte sich um die eigene Achse. Wo war Jeanne? Hatte sie überlebt? Die Momente, in denen nichts geschah, schienen ewig zu währen. Das entfesselte Wasser war nur noch ein helles Wolkenband, das mit dem Morgen verschmolz und ein stilles Meer hinterließ.
Alan begann zu hyperventilieren. „Alle weg. Alle abgesoffen. Scheiße! So was habe ich noch nie gesehen. Wo ist Jeanne? Scheiße!“
„Nein. Alan, komm wieder runter, bitte.“ Wie idiotisch. Da versuchte sie ihn zu beruhigen, obwohl sie selbst
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