Meeresblau
oft annahm, von langen Wanderungen über die Klippen, vom Schwimmen und den stundenlangen Ausritten. Von nichts zu viel und von nichts zu wenig.
„Was ist?“ fragte er. „Komm, teil deine Sorgen mit mir. Sonst fressen sie dich von innen heraus auf. Wie die Aliens aus dem Film, den wir letztens gesehen haben.“
Er gab genüssliche Seufzer von sich, kuschelte sich in sein provisorisches Lager und schaltete die Lampe aus. Dunkelheit erfüllte das Zimmer.
Sie blinzelte an die Decke hinauf. „Sag, dass du mich niemals allein lässt. So, wie Mom und Dad uns allein gelassen haben.“
„Es war ein Geisterfahrer.“ Seine Stimme klang gepresst. Sie konnte den aufbrechenden Schmerz ihres Bruders regelrecht spüren und schalt sich eine taktlose Idiotin. „Du redest, als hätten sie Schuld an ihrem Unfall.“
„Nein“, wisperte sie. „So meinte ich das nicht. Ich will nicht auch noch dich verlieren. Denn wenn du gehst, dann gibt es niemanden mehr in meinem Leben.“
Christopher stützte sich mit dem Ellbogen ab. Sein Gesicht schimmerte fahl in der Dunkelheit. „Was redest du denn da? Wie kommst du darauf, dass ich dich allein lassen könnte?“
„Ach, nichts.“
Die Erinnerung raubte ihm jede Aussicht auf Schlaf. Er konnte es Jeanne nicht erzählen. Er konnte ihr nicht sagen, was er empfunden hatte, als er ins Meer eingetaucht war. Als die Kühle des Wassers seine Haut umschmeichelt hatte wie eine Liebkosung. Er konnte ihr nicht erzählen, wie frei er sich fühlte, als er endlich ganz abgetaucht war und unter sich den sandigen Grund sah, von Gezeitenrillen durchzogen wie Hautfalten eines riesigen Geschöpfs. Wie herrlich es war, als er tiefer hinabtauchte. So tief, bis der sich in der Strömung wiegende Seetang seine Haut streifte. Schläfrige Fische waren durch das Indigo geschwebt, Muscheln und Schnecken hatten im Sand geglänzt. Und als er sich auf den Rücken drehte, waren über ihm hinter dem Wogen des Meeres die Sterne erschienen. Wie winzige, silberne Nadelstiche.
Dann war da der Sog.
Eine Strömung, die das Meer durch das Felstor der Bucht presste und es wieder hinauszog in die sturmgepeitschte Weite des Ozeans. Unwiderstehlich war ihm dieser Sog erschienen. Zuerst hatte er sanft an ihm gezogen, doch bald war die Zärtlichkeit in Penetranz umgeschlagen.
Komm zu uns. Die Freiheit ist ganz nah
.
Komm zu uns. Komm. Du gehörst hierher
…
Er wäre diesem hypnotischen Ruf gefolgt, hätte ihn die Stimme seiner Schwester nicht aufgehalten. Allein wegen ihr war er zurückgekehrt. Zurück in eine Welt, die ihm plötzlich falsch und fremd erschien. Was war nur los mit ihm? Wurde er krank? Verließ ihn der gesunde Menschenverstand? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er klar im Kopf bleiben musste.
Lange versuchte er, Schlaf zu finden, doch die ersehnte Ruhe wollte sich nicht einstellen. Schließlich stand er leise auf, schlich hinaus und ging in das Arbeitszimmer seines Vaters.
Der gediegene, im Kolonialstil eingerichtete Raum war inzwischen zu seinem Reich geworden. Ein gewaltiger Mahagonischreibtisch quoll über vor Büchern, Vorlesungsunterlagen, diversen Ausdrucken und Notizzetteln. In dem Regal, das eine gesamte Wand einnahm, tummelten sich wissenschaftliche Wälzer neben fantastischen Romanen und Sachbüchern über die Mythen und Legenden des Meeres. Der Duft von Vanilletabak lag noch immer in der Luft, obwohl seit Wochen niemand mehr hier Pfeife rauchte.
Wohl zum tausendsten Mal nahm er den Ausdruck zur Hand, der eine Topografie des Meeresbodens vor Chiles Küste zeigte. Nur zufällig war er während einer Recherche über Manganknollenvorkommen auf die gezackte Narbe gestoßen, die sich über eine Länge von zwei Kilometern hinzog und verglichen mit anderen Strukturen unauffällig daherkam. Weder war sie besonders lang noch besonders tief, doch sie barg ein Geheimnis.
Ein Geheimnis, das er lösen musste.
Die Standuhr schlug Mitternacht. Erschöpft sank er in den knirschenden Ledersessel, stützte sich mit einem Ellbogen auf dem Tisch ab und starrte auf die Karte. Jeder Gedanke war schwer wie ein Mühlstein. Träge tickend rückte der Zeiger der Uhr vor. Halb eins, ein Uhr …
Als ein tiefer Gong ertönte, verschleierten sich seine Sinne. Stimmen begannen zu säuseln. Leiser als ein Flüstern. Leise wie ein Gedanke.
Hilf uns!
Wir brauchen dich … ohne dich sind wir verloren
.
Kannst du uns nicht hören?
Es war noch nicht einmal hell, als für Jeanne die Nacht endete. Der Ton des
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