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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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trieb es in die Enge. Wunderschön war sie, mit blasser, silbriger Haut und langem Indigohaar. Im Schatten der Bäume taten sie ihr furchtbare Dinge an, lachten über ihren Schmerz und ließen sie halb tot im Sand zurück. Schäumend vor Wut brachten ihre Artgenossen sie in das Meer zurück, und als das Mädchen in Sicherheit war, entlud sich der Zorn der See ungehemmt über die Insel, deren Bewohner das Gesetz des Friedens so schändlich gebrochen hatten.
    Der Himmel über den Palästen wurde schwarz. Erdbeben erschütterten das Land, zerfetzten es und zwangen es in die Knie. Ein gewaltiger Sturm schob eine Welle vor sich her, so hoch, dass sie die Insel überspülte und alles, was die Erdbeben übrig gelassen hatten, ins Meer riss. Paläste und Tempel lagen nun am Grund der See, überwuchert und abgetragen vom Mahlstrom der Jahrtausende.
    Christopher sah sie vor sich. Die prächtige Stadt unter ihrer dicken Schicht aus Korallen und Schwämmen. Die Säulen mit ihren hineingemeißelten, runden Gesichtern, die lächelnd von alten Zeiten erzählten. Gärten und Wege, Prachtstraßen und weitläufige Plätze, auf denen sich keine Menschen mehr versammelten, sondern Schwärme tropischer Fische. So schnell diese Vision gekommen war, verschwand sie wieder, und als er erneut hinsah, waren da nur noch uralte Ruinen, bis zur Unkenntlichkeit verschlungen und erobert vom Meer.
    „Du warst dabei, als das geschah?“ fragte er Cal. „Das waren deine Erinnerungen?“
    „Ja“, war seine bittere Antwort. „Ich war noch jung, als es geschah. Ich sah die Insel auf meiner ersten Reise, und ich sah, wie sie unterging.“
    „Was ist mit dem Mädchen geschehen?“
    „Sie war nur noch das, was du einen Schatten nennst. So jung wie ich, noch nicht stark genug, um es zu überstehen. Wir konnten nur ihren Körper heilen, nicht ihre Seele. Lange ist es her, dass sie gegangen ist. Das Riff wuchs auf den einst heiligen Stätten der Menschen, weil sie Frieden nie lange halten. Frieden ist nichts für sie. Sie müssen kämpfen, erobern und Schätze sammeln.“
    Christopher wusste nichts darauf zu antworten, denn blickte man in die Geschichte zurück, erkannte man in den Worten eine unleugbare Wahrheit.
    „Woher kommst du?“, fragte er Cal. „Die Bilder deiner Heimat erinnern mich an meine Insel.“
    „Aus dem Norden“, sagte er. „Ich weiß kaum etwas davon. Wir fuhren auf Schiffen mit roten Segeln und trugen silbernen Schmuck. Viel habe ich von diesem Leben vergessen, in der Zeit, als alles dunkel und leer war.“ Cals Blick wurde plötzlich schwermütig. „Ich will mehr sehen. Mehr Erinnerungen. Sie sind wie Träume, die ich vergessen habe. Aber ich weiß, dass sie schön waren.“
    Abrupt schwamm er mit einer Gruppe Rochen in seinem Kielwasser davon. Im Wasser lag der bittere Geschmack von Trauer, ein Gefühl, das ihn eine tiefe Verbindung zu seinem Freund spüren ließ. Christopher sah sich um. Einige der Felsen ragten über das Wasser hinaus und boten Platz, um sich auszuruhen, also nutzte er die Zeit für einen Rückzug. Luft füllte seine vernachlässigten Lungen, Sonnenwärme streichelte seine Haut, so warm und schwer, dass es ihm nicht lange gelang, die Augen offen zu halten. Mühsam war es, seinen Körper dazu zu bewegen, wieder menschlich zu werden, doch es gelang. Ungläubig betrachtete er seine Beine, die ihm jetzt, hier draußen auf hoher See und nach vielen Tagen in seiner natürlichen Gestalt, fremd vorkamen. Er zog sie an seinen Körper, legte die Arme darum und sank mit dem Rücken gegen den sonnenwarmen Stein. Weit und breit war nichts zu sehen. Kein Boot, kein Schiff, keine ferne Küste.
    Als er dem Sog der Müdigkeit nachgab, sah er wieder Maya vor sich. Ihr Gesicht im Regen, damals auf dem Balkon des Hotels. Ihr Lächeln, als sie ihn in ihre Kabine gezerrt hatte, um ihm ihre Ergebnisse darzulegen. Er spürte die Berührungen ihrer Hände und den Geschmack ihrer Lippen. Hätte sie nur bei ihm sein können. Wären die Grenzen zwischen ihren Welten doch nur überwindbar …
    Angesichts der uralten Ruinen, die vergessen unter dem Spiegel des Meeres lagen, wurde ihm bewusst, wie verschwindend kurz ein menschliches Leben war. Kaum mehr als ein flüchtiger Moment des Lichts und der Wärme. Frustriert schüttelte Christopher die Müdigkeit ab und glitt zurück ins Wasser. Er musste weiter. Er musste seine Aufgabe erfüllen und zurückkehren, so bald wie möglich. Ganz gleich, was es für ihn bedeutete.
    Mondschein

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