Meeresblau
Schwester. Wenn sie auch nicht deine wahre Schwester ist.“
Die Realität schien zu gefrieren. Als sie ihren Lauf wieder aufnahm, war nichts mehr wie zuvor. Worte lagen auf seiner Zunge, doch er konnte sie nicht aussprechen.
„Ich weiß, dass Menschen die Liebe für das Mächtigste halten“, fuhr die Frau fort. „Aber die Art von Liebe, die wir in ihnen auslösen, ist gefährlich. Wir lassen sie so fühlen, damit sie ohne Angst in den Tod gehen. Das tun wir schon seit ewigen Zeiten. Sie zappeln in dem Netz, das unsere Schönheit für sie spinnt, und sie kommen darin um. Es ist ein wundervoller Tod. Es ist, als würde eine lebenslange Sehnsucht endlich ihre Erfüllung finden. Kein Fluch, sondern ein Geschenk.“
„Genug!“ Christopher hob abwehrend die Arme. Was immer sie ihm für einen Bären aufband, er wollte nicht weiter zuhören. „Hör auf damit. Ich glaube dir nicht.“
„Noch nicht“, erwiderte sie mit fester Stimme. Ihre Augen waren kalt und gnadenlos wie die eines Raubtieres. „Aber denke daran, dass zwischen uns und einem Menschen niemals erfüllende Liebe wachsen kann. Sie können nicht in unsere Welt kommen und wir nicht in ihre. Denke daran, dass wir dazu bestimmt sind, Seelen ins Meer zu locken. Wer uns liebt, der liebt den Tod. Wer uns begehrt, begehrt seinen eigenen Untergang.“
„Ich gehöre zu Jeanne.“ Jedes Wort fühlte sich an, als wäre es eine bleischwere Lüge. „Ich werde immer zu ihr gehören.“
Die Fremde ließ ein betörend schönes Lachen erklingen. „Nein. Du wirst nur geduldet. Du bist ein Gefangener. Aber das wirst du jeden Tag deutlicher spüren. Nichts und niemand kann etwas gegen den Lauf des Schicksals tun, und unser Schicksal ist es, menschliche Seelen zu verführen. Ob wir es wollen oder nicht. Du kennst die alten Bilder, die Menschen von uns malten. Du hast sie schon als Kind stundenlang angestarrt. Erinnerst du dich an die Meerjungfrau von Zennor? Das Bronzeschild in der alten Kirche?“
Er presste die Lippen aufeinander. Sein Unterbewusstsein hatte längst begriffen, was sein Verstand nicht bereit war, zu glauben. Als die Frau sich umdrehte und zur Tür ging, wollte er sie packen und zurückreißen. Doch er konnte keinen Finger rühren.
„Atme das Wasser“, sagte sie. „Dann bist du frei. Eine Wahl hast du nicht. Zögere es hinaus, solange du willst. Umso schwerer wird es für dich. Du gehörst dem Meer. Es wird dich rufen, bis du nicht mehr widerstehen kannst. Und vertraue den Menschen nicht, hörst du? Niemals taten sie unserem Volk Gutes, auch wenn du jetzt glaubst, von ihnen geliebt zu werden. Damals erlag ich derselben Hoffnung, aber am Ende wurde ich fortgejagt. Von den Menschen, die mir vorher nie Böses angetan hatten. Der Weg, den du einschlagen willst, ist der falsche. Und gefährlich.“
Damit ging sie hinaus, hielt vor der Tür inne und grub die Zehen in den Sand. Dies hier war kein Traum. Diese Frau war echt und in ihren Worten lag eine Wahrheit, die wie eine scharfe Klinge seine Seele zerschnitt. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Einen betörenden, schrecklichen Sinn.
„Erzähl mir mehr.“ Er folgte ihr mit zögernden Schritten. „Woher kommst du?“
„Aus dem Wasser. Genau wie du.“
Die Fremde lächelte, strich sich das Haar zurück und lief zur Brandung. Als die erste Welle ihre Beine umschäumte, verharrte sie und legte mit einem erlösten Seufzer den Kopf in den Nacken. „Komm morgen wieder hierher. Aber erzähle niemandem von mir.“
Sie begann, ihr Hemd aufzuknöpfen. Es glitt an ihrem Körper hinab und enthüllte das schönste Wesen, das er jemals erblickt hatte. Er wollte diese Haut berühren. Diese unmenschliche, seidige Haut, deren Schimmer an fleischgewordenes Mondlicht erinnerte. Ein Muster zog sich entlang der Linie ihres Rückgrats. Filigrane Streifen und Tupfen fluoreszierten wie eine Illusion. Auf ihrer Hüfte, den Oberschenkeln und der Taille glänzten kleine, silberne Erhebungen. Beinahe wie Schuppen. Wellen umschlangen die Knie, dann die Schenkel. Gischt schäumte über makellose Brüste. Sie holte tief Atem, stieß ihn wieder aus und warf sich nach vorn, hinein in eine heranrollende Welle. Ehe Christopher einen klaren Gedanken fassen konnte, verschwand das Wesen mit vollendeter Anmut im Meer.
Entgeistert stand er am Rande der Brandung. Die Frau war verschwunden. Untergetaucht in der Tiefe. Und sie kehrte nicht wieder zurück.
Als er wie paralysiert zur Hütte zurückging, öffnete sich das Grau des
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