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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Lachen entfloh ihr, als die Orcas mit ihren Atemfontänen einen salzigen Regen auf sie niedergehen ließen. Die Tiere waren gekommen, um sie hinaus in ihr Reich zu führen. Sie waren ihre Freunde und Wächter. Die Bugwellen ihrer Körper trieben das Kanu voran, zum Horizont, wo eine fremde Welt darauf wartete, sie willkommen zu heißen. Maya sehnte sich nach dem Tod. Nach dem immerwährenden, tiefen Schlaf, in dem sie kein Gedanke mehr erreichen würde.
    Niemals hätte sie zurückgeblickt, wenn nicht plötzlich etwas aufgetaucht wäre. Etwas Helles, das sich an einem scharfkantigen, aus dem Wasser ragenden Felsen festhielt. Mit letzter Kraft richtete sie sich auf. Es war ein Mensch, doch etwas stimmte nicht. Zu hell war seine Haut. Entlang des Rückgrats leuchtete es silberweiß, als wäre er von einem Muster gezeichnet. Seine Hände umfassten die Zacken des Felsens und boten einen sonderbaren Kontrast zu dessen Schwärze. Da waren dunkle Locken, die nass im Nacken des Wesens klebten, doch mehr konnte sie nicht erkennen, denn es hatte ihr den Rücken zugewandt.
    „Wer bist du?“, flüsterte sie mit schwindender Kraft. „Warum bist du hier draußen? Ich sterbe, aber du lebst.“
    Das Geschöpf wandte sich um und blickte sie an. Es war der Mann, der den Gesang der Wale verstand, und doch war sein Aussehen nicht dasselbe. Es besaß etwas Nichtmenschliches. Etwas zutiefst Fremdartiges, das sie hätte erschrecken sollen. Doch alles, was sie fühlte, war Verwunderung. Der Blick seiner tiefdunklen Augen bohrte sich in ihre Seele. Sah in sie hinein,als wäre ihre körperliche Hülle aus Glas. Der heftige Wunsch nach seiner Nähe überkam sie. Der Drang, bei ihm zu sein, wurde stärker als die Sehnsucht nach dem Elysium. Immer weiter entfernte sich das Kanu von dem Felsen, angetrieben vom Flossenschlag der Orcas. Immer weiter …
    „Nein“, rief sie. „Hört auf. Lasst mich zu ihm. Bringt mich nicht weg.“
    Sie zog sich über den Bootsrand. Der Messerstich brach wieder auf, Blut rann warm aus der Wunde. Doch es war ihr gleich. Sie musste zu ihm, sie konnte seine Stimme hören. So lockend und bezaubernd, dass sie nichts als Entzückung empfand. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, richtete sie sich auf.
    Ein Sturz, ein kurzer Fall. Wasser schloss sich um ihren Körper. Kälte zog ihre Lungen zusammen und ließ sie verzweifelt nach Luft ringen. Eine Kraft zog sie unter die Oberfläche, als sie einen Atemzug erkämpft hatte. Nichts konnte sie dem Sog entgegensetzen, er riss sie tiefer und tiefer, und als sie aufblickte, war über ihr das tanzende Licht der Oberfläche. Fern waren Land und Luft. Hier unten war alles blau. Tiefblau und still. Der Sog verebbte und nahm ihre Furcht mit.
    Ein mächtiger Schatten schälte sich aus dem Indigoblau. Majestätisch wie die Geschöpfe aus White Elks Märchen kam der schwarz-weiße Koloss auf sie zu. Immer näher. Als der Orca sich zur Seite wandte, um den Eindringling zu betrachten, konnte sie sich in den Augen des Wales sehen. Ihre Finger berührten seine glatte Haut. Sie streichelte ihn, schmiegte sich an ihn und wünschte sich, ewig verweilen zu können. Für Momente nahm sie teil an einer wunderbaren, gewaltigen Einheit, in der alle Fragen beantwortet und alle Wahrheiten enthüllt wurden. Doch als der Wal zu singen begann, verstand sie ihn nicht. So sehr sie sich bemühte, so sehr sie in sein Innerstes zu blicken versuchte, die Laute blieben unverständlich. Vollkommenes Glück verwandelte sich in schale Enttäuschung.
    Ihres Schweigens überdrüssig wandte sich das Tier ab und verschwand. Seine Gestalt verschmolz mit dem Blau des Meeres, um nichts als Einsamkeit zurückzulassen. Verzweiflung überwältigte sie. Alles Schöne und Hoffnungsvolle wurde aus ihrer Seele getilgt, als könnte sie nie wieder Freude empfinden, doch dann spürte sie Hände. Sanft und zärtlich auf ihrer Taille. Sie wurde herumgedreht. Lippen streiften ihre Stirn, Finger ihre Wange.
    „Keine Angst“, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf, so schön, dass ihr Klang alle Enttäuschung vergessen ließ. „Ich bringe dich nach Hause.“
    Der Mann lächelte sie sanftmütig an. Seine Haut schimmerte ätherisch hell, silbrige Streifen zogen sich über Wangen und Schläfen. Doch am erstaunlichsten waren diese Augen. Sie glommen aus ihrem Innersten heraus, in einem solch hypnotisierenden Blau, dass Maya den Drang verspürte, darin einzutauchen. Ihre Lungen gierten nach Sauerstoff. Sie wollte zur Oberfläche

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