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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Weckers zerfetzte so nervenaufreibend die Stille, in der sie geschwebt hatte, dass sie abrupt auffuhr und nach dem Gerät schlug. Polternd fiel es zu Boden, knapp neben Christophers Kopf. Er seufzte nur, drehte sich auf den Bauch und knüllte sein Kissen zusammen.
    Im Halbschlaf zog sie sich an, ging in die Küche und verfluchte die Tatsache, dass noch nicht Wochenende war. Sie schlürfte ein Glas Orangensaft und aß Cornflakes, während sie um sechs Uhr morgens aus dem Küchenfenster starrte. Strand und Felsen waren von Nebel verhüllt. Mit wabernden Fingern tastete er nach dem Dorf, glitt über die Wiesen und berührte den weiß gekalkten Stall der Sheepbouwers.
    Das Haus auf den Klippen, in dem früher ihre Großeltern gelebt hatten, war nur als geisterhafter Schemen zu erkennen. Obwohl seit vielen Jahren andere Menschen darin wohnten und der einstmals üppige Garten verwilderte, war es immer noch ein seltsames Gefühl zu wissen, dass sie nicht mehr dort waren. Damals wäre ihr Großvater im ersten Morgengrauen in den Garten hinausgegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Er hätte dort gestanden, seinen Labrador Ben gestreichelt und eine Pfeife geraucht, um nach ein paar Momenten der Entspannung die Beete abzugehen. Hier und da pflückte er etwas oder hob etwas auf, um am Ende seines Rundgangs mit Ben an den Strand zu gehen. Ihre Großmutter wiederum, gekleidet in einen karierten Kittel, bereitete das Frühstück zu.
    Jeanne sah diese Szenen deutlich vor sich. Die erleuchtete Küche, die durch den Nebel strahlte, der Umriss der alten Frau, die eifrig herumhantierte. Damals hatte sie mit Christopher jeden Morgen vor der Schule bei ihnen vorbeigeschaut, um einen Brombeer-Pfannkuchen hinunterzuschlingen und Großvaters Geschichten zu lauschen. Er wusste immer etwas über das Meer zu erzählen. Manchmal fand er beim morgendlichen Spaziergang ein Stück Treibgut, über das er sich eine Legende ausdachte, manchmal eine besonders schöne Kaurischnecke oder eine Muschel. Mal erzählte er von winzigen Katzenhaien, die er bei Ebbe in den zurückgebliebenen Gezeitentümpeln gefunden hatte, oder von Jack, dem Fischer, der seine Liebe zum Meer mit dem Leben bezahlt hatte.
    Jedes Mal hatten Christopher und sie das Gefühl gehabt, viel zu schnell aus einer verzauberten Welt in die Realität hinausgezwungen zu werden, um sich schnöden Menschendingen zu widmen. Dingen wie Mathematik, Physik und Geografie. Und den Rest des Tages verbrachten sie fantasielos: Formeln statt Meerjungfrauen. Rechenaufgaben statt Selkies und Aufsätze statt verwunschener Inseln.
    Sie wünschte, ihr Großvater würde noch leben. Er hätte vielleicht gewusst, wie man Christopher helfen konnte. Seit jeher besaß ihr Bruder eine Stärke, von der sie nur träumen konnte, und doch schien ihn etwas innerlich zu zerreißen. Von Tag zu Tag mehr, seit er zurückgekehrt war. Wo würde das enden?
    Sie vertrieb die quälenden Gedanken, nahm ihre Schultasche und ging hinaus in den Nebel.

    Schlaftrunken stapfte Christopher durch den frisch gefallenen Schnee, begleitet von Finn. Ein scharfer Wind wehte ihm das Haar ins Gesicht und biss in seine Haut, doch es kümmerte ihn nicht. Genüsslich leckte er sich das Salz von den Lippen. In letzter Zeit hatte er einen wahren Heißhunger nach diesem Mineral entwickelt, verspeiste Unmengen an stark gewürzter Brühe, Schinken, Chips und allem Möglichen, das viel Salz enthielt. Angesichts dieser Essgewohnheiten hätte er inzwischen das Aussehen eines tausendjährigen Tiefseeschwamms besitzen müssen, doch allen Unkenrufen zum Trotz nahm er kein Gramm zu. Seinen Hunger glich er mit Unruhe aus, die ihn immer wieder nach draußen trieb. Reiten, wandern, schwimmen. Oft stundenlang. Dazu kamen die Jobs auf den Fischerbooten, die harte, aber willkommene Arbeit mit sich brachten.
    Längere Ruhe machte ihn verrückt, das hatte er inzwischen erkannt. Die Wände des Hauses machten ihn irre. Manchmal schrumpften sie, wurden enger und enger, bis er es nicht mehr aushielt und an den Strand gehen musste, um atmen zu können. So auch heute. Das Geräusch der Wellen gab ihm Kraft. Da war das Rollen, mit dem sie sich dem Strand näherten. Das Donnern, wenn sie brachen, und das Rauschen, wenn sie über den Kies flossen. Am Ende flüsterte das Wasser, wenn es wieder zurückströmte. Doch es war ein Flüstern, das im Laufe der Jahrtausende Felsen zermalmte.
    Zunächst ziellos schlenderte er in Richtung Strand, bis ihm Jacks Hütte in den Sinn kam.

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