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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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schwimmen, doch das Geschöpf hielt sie fest. Unnachgiebig und überraschend stark. Ihre Gegenwehr war zuerst schwach. Zu fantastisch war alles, was sie umgab. Das Blau, die verhallenden Walgesänge, die aus der Tiefe heraufdrangen. Diese Augen und der Körper, der sich an ihren schmiegte. Das Haar des Mannes bewegte sich in der Strömung wie fließendes Seegras und umrahmte ein Gesicht, dessen kalte, gnadenlose Schönheit nichts Menschliches besaß. Vorsichtig, als befürchtete er, ihr wehzutun, berührte er ihre Wange. Seine Hände – oh Gott, seine Hände besaßen Schwimmhäute. Weiß und transparent spannten sie sich zwischen langen, in scharfen Krallen endenden Fingern.
    „Lass mich frei“, flehte sie, als ihre Lungen zu brennen begannen. Sie musste an die Oberfläche. Sie musste atmen. „Bitte lass mich frei.“
    Mit der Kraft der Verzweiflung kämpfte sie gegen die Umarmung an. Sie strampelte, zerrte und zog, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Die Oberfläche entfernte sich immer weiter. Sie würde sterben. So fern waren Licht und Luft. Sie musste atmen …
    „Deinen Leib und deine Seele für das Meer“, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. „Komm mit mir. Dann wirst du frei sein.“
    Ihr Körper gab den Kampf auf. Jeglicher Schmerz verschwand, und mit ihm die Gedanken an die Welt, aus der sie gekommen war. Vergangenheit und Zukunft versanken in Bedeutungslosigkeit. Ihre Arme umschlangen den Körper des Wesens, während sie tiefer sanken, immer tiefer und tiefer. Hinunter in die immerwährende Dunkelheit des Abgrunds. Seine Lippen legten sich auf ihre, kalt und schmeichelnd. Sie saugten ihr das Leben aus. Tranken ihren Willen. Und das letzte Licht der Oberfläche verlöschte zu dunklem Indigo, entschwand gemeinsam mit ihrem Leben.
    Schweißgebadet fuhr Maya auf. Wo war sie? Im Wasser? Tief im Meer? Tot … ertrunken … verloren.
    Hastig rang sie nach Luft. Ihre Lungen brannten und fühlten sich an wie trockene Klumpen. Erst als sich die unsichtbare Fessel um ihren Brustkorb löste, sank sie japsend in sich zusammen. Mit den Fingerkuppen berührte sie ihre Lippen. Noch immer glaubte sie, den Druck zu spüren. Den köstlichen Druck des Kusses. Und dieser Schwindel, dieser wunderbare Schwindel, als sie tiefer und tiefer gesunken war und alles bedeutungslos wurde.
    „Verflucht.“ Maya barg ihr Gesicht in den Händen. „Was ist nur los mit mir?“
    Alles war still. Nur die Aquariumpumpe gluckste, begleitet vom Ticken der Schreibtischuhr. Laut Ziffernblatt hatte sie kaum fünfzehn Minuten geschlafen. Wieder drifteten ihre Gedanken ab. Weg aus dieser Wirklichkeit. Wasser, das ihren Körper umschloss. Die glatte Haut des Wals, ihr Lächeln in den Augen des Tieres. Der Blick des Mannes drang bis in den tiefsten Winkel ihrer Seele und saugte ihren Willen in sich auf. Dann das Gefühl, in die Tiefe zu sinken, gehalten von den Armen eines Wesens, dessen Schönheit alles übertraf, was sie jemals erblickt hatte.
    Stöhnend rieb sie sich die Nasenwurzel. Was ging hier vor? Stand sie nicht sonst mit beiden Beinen auf der Erde? Seit wann rissen sie Traumgebilde dermaßen von den Socken? Vermutlich hatten die Medien ausnahmsweise recht. Wer mehr als sieben Tassen Kaffee pro Tag trinkt, halluziniert wild drauflos. Mit ausgestreckten Armen justierte Maya ihr kränkelndes Gleichgewicht aus. Sie musste nach Hause. Schlaf nachholen, Ruhe finden und endlich runterkommen. Nichts anderes würde helfen.

    Geschwungen wie eine Haifischflosse ragte die höchste der Klippen vor Christopher auf. Wo das Gras endete und sie steil zum Meer hin abbrach, schimmerte Kalkstein bleich wie Knochen. Als hätte man der Erde die Haut abgezogen, um ihr Gerippe zu entblößen.
    Der braune Wallach schnaufte protestierend. Doch als sie den höchsten Punkt erreicht hatten und sich die grandiose Aussicht ausbreitete, schien auch Sir Henry in Ehrfurcht zu erstarren. Christophers Blick wanderte über die See, streifte das Licht, das ein ferner Leuchtturm über die See schickte, und verlor sich in der Ferne. Seine Gedanken kamen zur Ruhe. Hier oben war er ohne Sorgen und Fragen. Nicht lebend, nur existierend. Erleichternd war diese Leere, weshalb er tief im Innersten froh war, dass Jeanne den Abend in ihrem Zimmer verbringen wollte. Vermutlich war er ihr während der Fahrt zwischen Schule und Dorf zu schweigsam gewesen, aber was hätte er auch sagen sollen? „Liebes, ich war heute in der alten Fischerhütte und traf eine Frau, die sich als Schwester

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