Meeresblau
Lange war er schon nicht mehr dort gewesen, und warum sollte er seinen morgendlichen Spaziergang nicht etwas ausweiten? Noch hatte er Zeit, bevor sein neuer Job begann und ihm die Möglichkeit zum Müßiggang verwehrt wurde. Er folgte dem verschneiten Pfad, der in mehreren Windungen bis zu den mit Kiefern bestandenen Klippen hinaufführte. An ihnen schlängelte er sich entlang und endete bei dem Strand, zwischen dessen Dünen das Fischerhaus vermoderte.
Nur schwammig konnte er sich an den Mann erinnern, der dort gelebt hatte. Groß war er, mit bernsteinfarbenen Augen und braunem Haar, das Gesicht leer wie das eines Toten. Im Gegensatz zu den anderen Kindern konnte er bei seinem Anblick keine Furcht empfinden, obwohl Jack, wann immer sie sich begegneten, ihn wie eine Erscheinung anstarrte. Warum er allein gelebt hatte, warum er mit niemandem sprach, wenn er ins Dorf kam, und woher die Traurigkeit in seinem Blick rührte, war ein Rätsel geblieben.
Eines Morgens war der Fischer auf das Meer hinausgefahren und nicht mehr zurückgekehrt. Ob auch er den Ruf gehört hatte? Dieses lockende Flüstern und Raunen? Abertausende Knochen vermoderten in der Tiefe, Überreste der Menschen, die auf See geblieben waren. Jack war nur einer unter vielen, doch mit seinem Lied hatte er sich einen Platz in den Köpfen der Menschen erhalten. Fischer sangen es, wenn sie mit ihren Kuttern hinausfuhren. Man trug es auf Dorffesten vor, und Mütter sangen ihre Kinder mit Jacks Worten in den Schlaf.
Es war ein Lied, das Christopher aus dem Herzen sprach.
Er streichelte Finns Kopf und wanderte weiter durch die windverkrüppelten Kiefern bis zum Strand. Die Hütte stand noch, eingerahmt von schneebedeckten Dünen. Ihre Fenster waren mit Brettern vernagelt, doch die Haustür hatte jemand von der Sperre befreit. Selbst von hier aus konnte er die Spuren sehen, die sich im Sand abzeichneten. Sie kamen aus dem Meer und führten über den Strand zum Haus.
Er suchte die Umgebung ab, konnte jedoch keine weiteren Spuren ausmachen. Auch ein Boot war nirgendwo zu sehen. Aus dem Schornstein der Hütte stieg eine Fahne bleichen Rauches auf und wurde schnell dichter, als wäre jemand dabei, den Kamin anzufachen. Neugier erwachte. Den Hund am Halsband gepackt hielt er auf die Hütte zu. Donnernd brachen sich hinter ihm die Wellen am Strand, aufgeworfen vom Sturm. Das Meer war über die Jahre immer näher gekommen und drohte, das Haus beim nächsten Orkan zu verschlingen.
Vorsichtig öffnete er die Tür, deren Holz das Gefühl vermittelte, es könnte unter seinen Fingern zerfallen. Feuerschein erhellte die Düsternis des Raumes, Modergeruch schlug ihm entgegen wie greifbar gewordene Vergangenheit. Eine Frau saß auf dem zerschlissenen Sessel vor dem Kamin, die nackten Beine angezogen, gekleidet in ein fadenscheiniges, viel zu großes Fischerhemd. Die Fremde besaß langes, gewelltes Haar und zarte Finger, mit denen sie ein Buch festhielt. Neben dem Sessel lagen weitere Bücher. Er erinnerte sich, dass sie schon dort lagen, als er als Kind durch die zugenagelten Fenster lugte, neugierig darauf, einen Blick auf Jacks geheimnisvolle Welt zu ergattern.
„Wer sind Sie?“, fragte er. „Kommen sie aus dem Dorf?“
„Nein“, antwortete ihm eine Stimme, die so klang, als streichelte man über Samt. „Ich bin nicht von hier.“
Sie wandte sich ihm zu, und in dem Moment, da ein Blick aus Augen von tiefstem Blau den seinen traf, glaubte er, einem Trugbild aufzusitzen. Denn er sah in ein nur leicht verändertes Spiegelbild. Das Geschöpf besaß weichere, weiblichere Züge, doch ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie seine. Das Blau der Meerestiefen changierte in Petrolgrün. Wie er besaß sie ein ovales Gesicht, volle Lippen und Augen, deren leicht schräge Form ihren Zügen etwas Fragiles und Fremdartiges verlieh.
„Wer sind Sie?“ Christopher wich zurück, bis er die Wand in seinem Rücken spürte. „Woher kommen Sie?“
Finn ließ sich auf die Hinterbeine sinken und starrte der Frau entgegen. Ein leises Winseln war zu hören, als hätte er Angst. Normalerweise fürchtete der Hund sich vor niemandem.
„Wer ich bin?“ Eine träge Sinnlichkeit ging von ihr aus, als sie sich im Sessel rekelte. „Ich bin so wie du. Genauso wie du.“
Als die Frau aufstand und zu ihm kam, presste er sich gegen die Wand. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Es musste ein Traum sein, ein sehr realer Traum, und wer konnte schon sagen, wo darin die Grenze zur Wirklichkeit
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