Meeresblau
meiner Mutter vorstellte. Sie erzählte mir ein paar rätselhafte Dinge über meine Herkunft und verschwand anschließend im Meer, als wäre sie ein Fisch.“
Nein, solange er selbst nicht begriff, was all das bedeutete, wollte er sie nicht noch mehr verwirren. Vielleicht verbarg sich hinter alldem eine logische Erklärung. Eine Lösung, die sich mit der rationalen Welt vertrug. Seinen Studenten und Kollegen hatte er stets die Illusion vermittelt, über einen schier grenzenlosen Wissensschatz zu verfügen. Jede Frage hatte er beantworten, jedes verworrene Rätsel lösen können. Nichts hatte ihn verwirrt, alles war ihm strukturiert und logisch erschienen. Bis die Visionen ihn heimgesucht und eine gewaltige Sehnsucht mit sich gebracht hatten.
Jetzt war der Spiegel der Welt, der ihm so klar erschienen war, blind geworden. Er hatte das Gefühl, nichts mehr zu wissen. Er wusste nicht einmal mehr, wer er war.
Wütend über die Gedanken, die ihn nun auch hier einholten, ließ er sich aus dem Sattel gleiten, streifte Sir Henry die Zügel über den Kopf und ging zu dem verwitterten Stein. Seit Ewigkeiten trotzte der Menhir hier oben den Stürmen. Etwa mannshoch und überzogen von Flechten erweckte er den Eindruck eines Grabsteins. In einem Touristenführer war zu lesen, dass es sich bei diesem Relikt um einen piktischen Symbolstein aus dem fünften Jahrhundert nach Christus handelte. Niemand wusste Genaues, denn die eingeritzte Botschaft war im Laufe der Jahrhunderte unleserlich geworden und gab den Zweck des Steines nicht preis. Zu erkennen war nur noch das Abbild der Nixe. Seine Finger fuhren die verwitterten Linien nach, befühlten und betasteten sie, erforschten jede Kleinigkeit. Die keltische Art, mit Linien und Mustern zu spielen, besaß etwas Faszinierendes. Komplizierte Schnörkel bildeten die Haare und schlangen sich um Schultern, Brüste und Hüften der Nixe. Schuppenartige Muster bedeckten ihren fischartigen Unterleib. Er fragte sich, wer diese Figur geschaffen hatte und warum. Lag eine tiefere Bedeutung dahinter?
Sir Henrys Wiehern riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Das Pferd bot einen sonderbaren Anblick. Wie versteinert, die Ohren gespitzt, starrte es auf das Meer hinunter.
„Was ist los? Siehst du Gespenster?“ Er ging zu dem Tier, legte ihm die Hand auf den Widerrist und folgte seinem Blick. Zunächst sah er nichts. Nur das Glänzen des Wassers, die Sprenkel der Gischt und den fernen Schein des Leuchtturms. Dann aber erhaschten seine Augen etwas Helles zwischen den Wellen. Es war kein Tier. Kein Vogel, kein Seehund, kein Fisch. Alles in ihm gefror, als er sich auf den Rücken des Pferdes zog und ihm die Hacken in die Flanken drückte.
In gestrecktem Galopp jagte Sir Henry über den Abhang zum Strand. Wo die Brandung den Schnee geschmolzen hatte, stemmte der Wallach seine Hufe in den Sand, und noch während das Tier schlingernd zum Stehen kam, sprang Christopher aus dem Sattel.
Wo war sie? Eben noch hatte er ihre Gestalt gesehen, die in den Wellen spielte. Draußen, wo das Riff begann. Rasch lief er den Strand entlang zu den Felsen, wo Berge angeschwemmten Tangs lagen. Vielleicht war sie wieder zu sehen, wenn er auf einen der Steine kletterte. Gerade wollte er die Idee in die Tat umsetzen, als sein Fuß sich in etwas verfing. Stolpernd ging er zu Boden, grub seine Halt suchenden Finger in den nassen Sand und sog scharf die Luft ein. Ein Gefühl berauschender Intensität durchzuckte ihn. Überdeutlich fühlte er die winzigen Körnchen, das Wasser und die Tangstückchen. Roch das Meer. Das Salz. Den herben Geruch von Verwesung und Fruchtbarkeit.
Ein Nylonstrang hatte sich um seine Schuhspitze zusammengezogen. Vermutlich stammte der Strang von einem Netz, das eines der Fischerboote am Riff verloren hatte. Zwei Fische und eine tote Silbermöwe hingen darin. Wahrscheinlich hatte der Vogel, auf leichte Beute hoffend, nach den im Netz zappelnden Leibern schnappen wollen und war selbst gefangen worden.
Er befreite seinen Fuß, nahm den Kopf des ertrunkenen Tieres in die Hand und betrachtete ihn. Es war ein wunderschöner Vogel. Tote Möwen besaßen etwas Tragisches, weil sie ein Sinnbild der Freiheit waren. Bei ihren Spielen mit den Stürmen schienen sie über der Sterblichkeit zu stehen. Eine Illusion, die oft auf diese Weise ihr Ende fand. Er legte den Kopf wieder ab und richtete sich auf. Keine Frau war mehr zu sehen. Offenbar war er einer Halluzination seines überreizten Gehirns erlegen. War sie
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