Meeresblau
nicht nur Einbildung, weil er so sehr nach Antworten auf seine Fragen brannte? Oder weil er schlichtweg verrückt wurde?
Kein Mensch wagte es, dort draußen zu schwimmen. Viele waren schon in den Strömungen gestorben, zermalmt an den scharfen Felsen des Riffs oder in die offene See hinausgezogen worden. Nur selten hatte man ihre Körper wiedergefunden. Das Wasser war hungrig und gab seine Opfer nur ungern wieder frei. Es gierte nach den Seelen derer, die ihm auf Gedeih und Verderb verfallen waren. Derart, dass sie nicht mehr schlafen konnten, nicht mehr essen und nicht mehr leben.
Komm zu uns
…
Komm … atme das Wasser
…
Komm!
Christopher begann, sich auszuziehen. Er wollte diesen Stimmen folgen. Der Versuchung nachgeben und endlich das tun, wonach es ihn verlangte. Ganz gleich, wie verrückt es war. Wind strich über seinen nackten Oberkörper, feucht von salziger Gischt. Seine Vernunft war nur noch eine winzige Regung irgendwo unter einem übermächtigen Verlangen.
Die Kraft der Wellen schien zuzunehmen, je wilder das Sehnen wurde. Ein Gefühl von Macht strömte durch seinen Körper, verlockend und berauschend, vereint mit der Kraft des Windes und der See. Immer höher rollten die Wellen an den Strand, umschäumten seine Füße, zogen und raunten und lockten. Das Wasser verführte ihn wie eine Frau ihren Geliebten und plötzlich war ihm, als wäre er es selbst, der die Wellen rief und den Sturm beschwor. Seine Arme breiteten sich aus. Euphorisch bot er sich der Macht dar, die in ihm heranwuchs. Niemals hatte er sich freier gefühlt. Es war herrlich, die Nacht auf seinem nackten Leib zu spüren, das Wasser und die Kälte und den Wind. Seine Gedanken an Jeanne verblassten. Das auf-und abschwellende Rufen der See löschte seine Ängste aus. Als eine meterhohe Welle auf ihn zurollte, warf er sich nach vorn und tauchte in sie ein.
Zu Hause. Er war endlich zu Hause.
Das Wasser umschloss ihn und brachte ihn hinaus. Die Strömung riss nicht an ihm, sondern war sanft und behütend. Als er die Augen öffnete, sah er, wie sich das nächtliche Meer vor ihm erstreckte. Sein im Nichts verschwimmendes Blau war eine einzige, ergreifende Metapher für die Freiheit, nach der er sich so lange gesehnt hatte. Alle Verwirrung war vergessen, alle Fragen fanden zu einer Antwort, deren Einfachheit überwältigend war. Heller Sand erstreckte sich unter ihm, durchzogen von Gezeitenrillen. Luftblasen tanzten auf seiner Haut, die unter Wasser noch blasser aussah als an Land. Genüsslich ließ er sich hinabsinken, bis er über dem Grund trieb und seine Finger in den Sand grub. Die Welt dort oben war weit entfernt, gleichbedeutend mit Schwerfälligkeit und Gefangenschaft. Jetzt fühlte er sich leicht und frei wie ein Vogel, der durch den Himmel gleitet.
Er streckte die Arme aus und drehte sich auf den Rücken. Hoch über dem Meer sah er die Wolken ziehen. Selbst als sie den Mond verdeckten, war der Ozean nicht dunkel. Er konnte sie sehen, die dahinschwebenden Quallen, deren Körper träge pulsierten. Garnelen, die über den Sand flitzten, ein mächtiger Heilbutt, groß wie ein Wagenrad, der über den Grund glitt. Seesterne krochen über den Meeresboden, Krabben staksten unter ihm daher. In einiger Entfernung schwamm dicht unter der Wasseroberfläche ein Schwarm großer Fische, deren Name ihm nicht einfiel. Doch in dieser Welt waren Namen gleichgültig, also dachte er nicht weiter darüber nach.
Die Strömung trug ihn weiter hinaus, bis die ersten Ausläufer des Riffs auftauchten, bevölkert von Wellhornschnecken, Seeigeln und Kaltwasserkorallen. Fasziniert betrachtete er jede Kleinigkeit, befühlte alles, sog die Eindrücke auf. Hauchzart fühlten sich die Anemonen an, scharfkantig der Fels und glatt die Schnecken. Wie aus rauem Sandpapier gemacht war die Haut eines Rochens, der über den Steinen schwebte, samtig waren die Füße der Seenelken, deren fedrige Tentakel sich in der Strömung neigten.
Als er seine Hand über eine Ansammlung aus violetten Wachsrosen gleiten ließ und aufgeschreckte Fische wie Quecksilbertropfen um ihn herumhuschten, wurde die Frau gleichgültig, die ihn gelockt hatte. Das Pferd wurde gleichgültig, selbst Jeanne erreichte kaum mehr seine Gedanken. Immer weiter schwamm er hinaus, bis der Sand dunkel wurde und bedeckt war von Seegras. Hinter den Wiesen des Meeres begannen die Wälder. Ein Dschungel aus Tang mit Stängeln, die sich vom Grund bis zur Oberfläche erstreckten, und in der Strömung tanzenden
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