Meeresblau
er es mit aller Kraft und bei klarem Verstand. Der schwarze Wolf hingegenist voller Wut. Jede Kleinigkeit bringt ihn zur Weißglut. Er bekämpft alles, die ganze Zeit und meist ohne Grund. Vor lauter Wut und Angst kann er kaum mehr denken. Manchmal ist es schwer, mit beiden Wölfen zu leben, denn beide versuchen, den Geist zu beherrschen.“
„Und wer von beiden gewinnt?“
„Der, den du fütterst.“
„Aha.“
Eine Weile schien er darüber nachzudenken. Wie er da am Baum hing und mit ernster Miene ins Leere starrte, brachte sie zum Lachen. Lange hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt. Vermutlich hatte sie sich noch nie so gut gefühlt. Als er wieder zu schaukeln begann, rutschten sein Mantel und das Kapuzenshirt nach unten, sodass seine Brust entblößt wurde. Entzückt nahm sie diesen Umstand zur Kenntnis. Alles an ihm schien vollkommen, aber irgendwo musste ein Makel sein. Etwas, das diesen Mann realer machte. Und dann entdeckte sie etwas. Ein Riss schien sich durch ihren Verstand zu ziehen, unter dem sich etwas anderes an die Oberfläche wühlte. Sie sah es deutlich vor sich. Viel zu deutlich. Ein silberhelles Streifenmuster schimmerte für kurze Momente auf seiner Brust. Fluoreszierend.
„Großer Geist.“ Für einen Augenblick vergaß sie, sich festzuklammern, was sich unmittelbar rächte. Unsanft schlug sie auf dem Boden auf. Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen und jagte einen stechenden Schmerz durch ihr Steißbein.
„Hast du dir wehgetan?“ Er schwang sich vom Ast und stopfte das Shirt in seine Jeans. „Noch alles ganz?“
„Ich glaube schon.“ Sie rappelte sich auf und klopfte Nadeln und Erde von ihrer Kleidung. Neuerdings halluzinierte sie also auch noch. Wunderbar. Dieser Ort ließ ihre Fantasie überschnappen, das musste es sein. Nach wochenlanger Nerven zermürbender Büroarbeit mutete sie sich einfach zu viel zu. Ganz zu schweigen von diesem Mann, der Öl in das Feuer ihrer Fantasie goss.
Der Wind wurde stärker, zerrte an ihren Haaren und an der Jacke, ließ die Kiefern knarzen und drückte die Wellen gegen die Klippen. In ihr prickelte die Energie purer Lebendigkeit. Sie wollte sie aufkochen lassen, wollte, dass sie ihren ganzen Körper flutete.
„Ich muss den weißen Wolf füttern.“ Sie gab dem Impuls, einfach loszulaufen, kurzerhand nach. Maya rannte, bis ihre Lungen schmerzten, huschte zwischen den Kiefern umher, lief einen Hang hinab und sog die salzige Luft ein. Über ihr trieben vom Mondlicht umrandete Wolken dahin, so tief, dass sie sich einredete, sie mit ein wenig Strecken berühren zu können. Grasähren kitzelten die Innenflächen ihrer Hände, trockene Nadeln knirschten unter ihren Schritten. Sie rannte weiter, bis sich das Kiefernwäldchen öffnete und den Blick auf einen hell schimmernden Strand freigab.
Es war ein wunderschöner Anblick. Ein surreales Caspar David Friedrich-Gemälde, das ihr das Gefühl gab, eine Traumwelt zu durchwandern. Nebelstreifen ließen die Linie zwischen Land und Meer verschwimmen, Frost glitzerte auf den starren Halmen des Strandhafers. Am Rande der Dünen stand ein kleines Haus. Obwohl ihre Augen in dieser Dunkelheit nicht viel sahen, war doch gut zu erkennen, dass eine einzelne Fußspur aus dem Meer kommend darauf zuführte. Während sie weiterrannte, hörte sie Christopher etwas rufen, doch über das Tosen des Meeres verstand sie ihn nicht. Ausgebleichtes Treibholz säumte die Linie zwischen Dünen und Strand, vom Meer in etwas verwandelt, das aussah wie die Knochen eines Saurierfriedhofes.
Nur einen Moment zögerte Maya, als sie das Haus erreichte. Es sah verlassen aus, aus der Nähe betrachtet glich es eher einer besseren Bretterhütte. Ohne anzuklopfen, riss sie die morsche Tür auf. Ein Fehler, den sie sofort bereute.
In einem Sessel, der aussah, als fiele er jeden Augenblick auseinander, saß eine Frau. Splitterfasernackt. Ihre Finger spielten, vom Licht eines Kaminfeuers in goldenes Licht getaucht, mit einem Armband aus Münzen.
Maya spürte, dass ihr Mund weit offen stand. Peinlich berührt klappte sie ihn zu. Die Augen der Fremden waren dunkelblau, mit geheimnisvollem Indigo und einem Hauch von Meeresgrün. Ihr Anblick war surreal. Magisch. Eine märchenhafte Illusion. Mayas Entschuldigung, ohne Vorwarnung in die Hütte geplatzt zu sein, blieb ihr im Halse stecken.
Diese Frau war Christopher auffallend ähnlich. Der besondere Farbton ihrer Haare, die bis auf ihre Oberschenkel hinabflossen, das schmale
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