Meeresblau
Gesicht, die großen Augen. Hinzu kam die Art, wie sie nur durch ein träges Blinzeln eine den Verstand vernebelnde Sinnlichkeit ausstrahlte.
„Ich habe doch gesagt, dass du von der Hütte wegbleiben sollst.“ Christopher stand hinter ihr und klang erbost. „Warum hast du nicht auf mich gehört?“
„Tut mir leid.“ Sie war wie betäubt von einem Anblick, der nicht in diese Wirklichkeit passen wollte. „Ihr seid verwandt, oder?“
„Nein.“ Sein Blick heftete sich starr auf die Frau. Es war unmöglich zu sagen, was er fühlte. „Lass uns allein. Bitte.“
„Okay. Tut mir leid.“
„Schon gut. Geh nach draußen. Es dauert nicht lange.“
Noch einmal erhaschte sie einen Blick auf die Frau, deren Schönheit ihr Angst einjagte, dann wandte sie sich um und verließ die Hütte. Die Tür fiel hinter ihr zu. Sie lief ein paar Schritte, schüttelte den Kopf und versuchte, zu begreifen. Was war das schon wieder? Wurde sie endgültig verrückt?
Die Hände in ihren Jackentaschen vergraben lief sie zum Saum der Brandung hinunter. Ihr für gewöhnlich ordnungsmäßig arbeitender Verstand erreichte die Grenze, hinter der das Reich kühner Fantasien und kruder Theorien begann. Maya setzte sich auf einen angespülten Baumstamm und stützte die Arme auf den Knien ab. Sie versuchte, ihre Gedanken zumindest halbwegs zu sortieren. Christopher verfügte über ein übermenschliches Gehör. Er verstand auf unerklärliche Weise den Gesang der Wale, hatte binnen kürzester Zeit die Struktur seiner Haut verändert und besaß mit Abstand die abgefahrensten Augen, die sie je gesehen hatte. Hieß das, dass er nicht normal war? Im Sinne von – sie schluckte schwer über diesen Gedankengang– nicht ganz menschlich?
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und trabte zielstrebig auf sie zu. Es war der Husky. Mit schief gelegtem Kopf blieb das Tier vor ihr stehen.
„Du willst wissen, was los ist? Dein Herrchen unterhält sich da drin nur mit einer nackten Frau, die dem Meer entstiegen scheint, und ich knalle fröhlich durch. Wie findest du das?“
Finn drehte seinen Kopf in Richtung Hütte und spitzte die pelzigen Ohren.
„Verrückt, was? Aber was will man machen, wenn die Alterssenilität schneller kommt als erwartet? Oder ist es ein Gehirntumor? Die Matrix? Bin ich vielleicht vorhin überfahren worden, liege im Koma und träume das alles nur? Das wäre auch eine Idee, findest du nicht?“
Der Hund legte seinen Kopf auf ihren Oberschenkel und schnaufte.
„Wenigstens einer versteht mich.“
Maya seufzte. Gemeinsam mit Finn sah sie zu, wie die Gischt der Wellen über den Strand schäumte und eine spiegelnde Fläche zurückließ. Immer wieder betastete sie die Pauamuschel, spürte ihre glatte Härte unter dem Pullover und bildete sich ein, White Elk auf diese Weise irgendwie beschwören zu können. Fing sie hier und heute an, an Fabelwesen zu glauben? An Sirenen, Meerjungfrauen und Poseidons Volk? Ihr Opa hätte lakonisch entgegnet: „Warum nicht?“
Ja, warum nicht. Vielleicht, weil ihre Welt aus wissenschaftlicher Logik bestand und White Elk seine Spiritualität nicht an sie vererbt hatte?
Maya stand auf und raufte sich die Haare. Grübeleien wie diese führten zu nichts. Sie war eine Meeresbiologin, eine Analytikerin, also musste sie so an die Sache herangehen. Das Rätsel analysieren, Stück für Stück, bis am Ende eine befriedigende Lösung herauskam. Aber wo sollte sie ansetzen?
Eine Weile wanderte sie unschlüssig umher. Als sie einen Spalt zwischen den Brettern der Hütte entdeckte, war ihre Neugierde nicht mehr zu unterdrücken. Kurzerhand beugte sie sich vor und blickte hindurch.
Christopher und die nackte Frau standen dicht voreinander. Sie streckte ihre Hand aus und legte sie auf seine Brust. Langsam strichen ihre Finger darüber, unverhohlen verführend. Diese beiden Wesen waren die Verkörperung weiblicher und männlicher Anmut. Sie waren aus derselben Essenz, von derselben weltfremden Andersartigkeit. Doch worauf beruhte diese Andersartigkeit?
Mit gequälter Miene schloss Christopher die Augen, während seine Hände sich auf die Hüften der Frau legten. Als hätte sie nur darauf gewartet, zog sie ihn näher an sich, legte den Kopf an seine Schulter und flüsterte etwas, das Maya nicht verstehen konnte. Seine Finger glitten über makellose Brüste, mehr neugierig als verlangend, wischten feuchte Haarsträhnen beiseite und zogen die Linie ihrer Taille nach.
Probeweise kniff Maya sich in den
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