Meeresblau
Unterarm, doch anstatt aufzuwachen, wurde sie Zeugin, wie sich die Frau Christophers Armen entwand und mit einem wütenden Zischen zurückwich.
„Begreif es endlich“, warf sie ihm entgegen. „Du kannst nichts dagegen tun. Gar nichts. Deine Zeit an Land ist abgelaufen. Weißt du, wo du hier bist? Es ist die Hütte deines Vaters und deiner Mutter. Hier lebten sie, bevor das Schicksal sie für ihre Sturheit bestrafte.“
Diese Worte schienen ihn zu treffen wie ein Schlag in die Magengrube. Schwankend griff er nach der Lehne des Sessels. „Das hier ist die Hütte meiner Eltern?“
„Der Fischer namens Jack.“ Die Frau zeigte ein herausforderndes Lächeln. „Er war dein Vater. Und er glaubte wie du, seinem vorbestimmten Schicksal entkommen zu können. Es kann zwischen uns und einem Menschen keine Liebe geben, verstehst du das? Deine Mutter opferte viel für Jack. Sie kehrte dem Meer den Rücken zu und gab sich der Illusion hin, ein Mensch sein zu können. Nur ein paar Jahre lang waren sie glücklich. Er ging fischen und sie hütete das Haus, wie es Menschenfrauen tun. Beide glaubten, ihre Liebe sei stärker als das Schicksal und stärker als ihre Natur. Für diesen Irrtum bezahlten sie einen hohen Preis. Meine Schwester starb bei deiner Geburt. Ihr Blut floss ins Meer, als sie dir inmitten der Wellen das Leben schenkte. Niemals zuvor ist es geschehen, dass jemand unserer Rasse sich mit einem Menschen vermischte. Niemals. Unsere Liebe tötet, und am Ende erfuhr das auch dein Vater. Der Verlust seiner Frau ließ seine Seele zerbrechen. Einige Jahre noch fuhr er auf das Meer hinaus, bis in einer Winternacht der große Sturm aufzog. Er lenkte sein Schiff mitten hinein.“
Christopher sank in den Sessel. Eine Weile sagte er nichts, während sein Gesicht zu Eis erstarrte. „Warum hast du ihn nicht gerettet?“, presste er hervor. „Du hättest es tun können.“
„Er wollte nicht gerettet werden“, erwiderte die Frau, diesmal zärtlich und sanft. „Er wollte vom Leben erlöst werden und wieder bei deiner Mutter sein. Ich befreite seine Seele, so wie ich ihre befreit habe.“
„Und was war mit mir?“
„Meine Schwester wollte, dass du nach alter Tradition unter den Menschen aufwächst. Sie wollte, dass du Liebe spürst und lernst, die Welt aus Luft und Erde ebenso zu schätzen wie die des Meeres.“ Etwas Verächtliches klang in ihrer Stimme mit, als sie fortfuhr. „Eines Abends sah ich ein Paar am Strand entlanglaufen und spürte, dass sie die Richtigen waren. Sie und niemand sonst. Also legte ich dich am Strand ab und wartete, bis sie dich fanden.“
Christopher schloss die Augen und atmete tief ein. „Wie lange war ich bei ihm?“
„Bei deinem Vater? Ich nahm dich mit, nachdem meine Schwester starb. Er hat dich nie im Arm gehalten. Er wollte dich nicht.“
Unvermittelt fuhr er hoch und ging auf die Frau zu. Mit einem wütenden Knurren packte er sie bei den Schultern, drückte zu und entlockte ihr einen Schmerzenslaut. „Warum sollte ich dir glauben? Woher weiß ich, dass du die Wahrheit sagst?“
„Weil du es spürst“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Dein Körper verändert sich. Das Blut deines Vaters stirbt ab, während das deiner Mutter stärker wird und deinen Körper übernimmt. Es gab noch nie ein Halbblut wie dich, also weiß ich nicht, ob du in jeder Hinsicht bist wie wir. Wir altern nicht, wie es Menschen tun. Nach der Verwandlung bleiben wir jung, aber Verletzungen können uns töten. Wir können durch Gifte sterben oder dahinsiechen, wenn wir zu lange dem Wasser fern bleiben. Es gibt nur noch wenige von uns, sehr wenige. Viele starben durch Krankheiten, als das Meer schmutzig wurde, und die wenigen Überlebenden verstecken sich aus Angst vor den Menschen in der Tiefe. Sie haben ihre Macht verloren. Ihr Stolz gehört der Vergangenheit an. Sie sind nur noch Schatten und warten auf Erlösung.“
„Wo verstecken sie sich?“, fragte Christopher matt.
„Weit weg von hier, warum fragst du?“
„Ich sehe Bilder. Und ich glaube, ich kann bestimmen, wo sich das befindet, was ich sehe.“
Die Fremde nickte. „Ja, Jack hat mir viel über eure Fähigkeiten erzählt. Aber all eure Macht beruht auf Maschinen, nicht auf eurem Geist. Bei dir ist das anders. In dir spüre ich die Macht, die unserem Volk einst gegeben wurde. Verleugne dieses Erbe nicht. Wir brauchen dich. Du und ich, wir sind die beiden Letzten, in denen diese Kraft liegt. Damals wurden meine Schwester und
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