Meeresblau
ich ausgesandt, um andere Überlebende zu suchen, aber wir fanden nichts. Nur ein Meer, das nicht mehr so war, wie wir es kannten. Gehe nicht mit den Menschen, vertraue ihnen nicht. Sie sehen uns nur, wenn wir ihre Seele nehmen. Komm in die Welt, in die du gehörst, bevor es zu spät ist.“
Christopher stieß einen Laut aus, der wie ein ersticktes Knurren klang. „Ich kann nicht. Ich kann nicht mit dir gehen. Unmöglich.“
Wutschnaubend wandte sich die Frau ab und riss die Tür auf. In letzter Sekunde gelang es Maya, auf Abstand zu gehen. Der unergründliche Blick der Fremden traf sie, gerade als sie mit dem Fuß betont unschuldig im Sand einer Düne herumscharrte. Ohne ihre Neugierde zu tadeln, wandte die Frau sich ab und lief zum Meer hinunter. Maya fühlte Übelkeit aufsteigen. Was hatte sie da nur belauscht? Wie sollte sie das mit ihrem Verstand vereinbaren? Es musste ein Scherz sein, versteckte Kamera oder etwas in der Art. Hätte sie nur niemals durch diese verdammte Lücke geblickt.
„Verschwinde.“ Christopher lief der Frau ein paar Schritte hinterher. Dann blieb er stehen und verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Niemand befiehlt mir, was ich zu machen habe.“
Die Fremde warf ihm einen Schulterblick zu. „Du hast keine Wahl.“
Mondlicht verwandelte ihren Körper in eine Statue aus frostigem Quecksilber. Eine Stimme in Mayas Kopf flüsterte das Wort übermenschlich, doch sie hörte dieser Stimme nicht zu. Es musste eine andere Erklärung geben. Eine logische.
„Du musst nach Hause kommen. Sei nicht so dumm und laufe sehenden Auges in dein Verderben.“
Wellen umspülten die Füße der Frau, doch sie schien die Kälte des Wassers nicht zu spüren. Kein Zucken durchlief ihren Körper, nicht einmal eine Anspannung. Stattdessen ging sie einfach weiter. Hinein ins Meer.
„Komm“, lockte sie. „Komm schon.“
„Nein.“ Christopher rührte sich nicht vom Fleck. „Ich entscheide über mein Leben. Niemand sonst.“
„Ich habe dir gesagt, was dein Schicksal ist, und daran kann keine Macht dieser Welt etwas ändern. Es ist deine Natur. Das, wozu du erschaffen wurdest.“
Wieder schüttelte er den Kopf. „Nein.“
„Oh doch. Und du wirst es bald begreifen.“
Jetzt stand die Frau bis zu den Hüften im Wasser. Der Körper des Wesens veränderte sich. Es jetzt noch als menschlich zu bezeichnen, war unmöglich. Die Haut der Fremden schimmerte silbern, weiße Schuppen leuchteten auf Oberschenkeln und Hüfte. Dann warf sie sich nach vorn und tauchte in das Wasser ein. Geschmeidig wie ein Fisch. Binnen eines Wimpernschlags war nichts mehr von ihr zu sehen. Nur das vom Sturmwind aufgewühlte Wasser.
„Scheiße!“ Maya spürte die eisige Umklammerung eines Schocks. Im Unterbewusstsein war ihr klar, dass die Frau kein Mensch war, und doch reagierte ihr Verstand nach dem üblichen Muster. „Wir müssen ihr helfen.“
Sie wollte Christopher am Arm packen und ihn aus seiner Starre reißen, doch sein Gesichtsausdruck ließ sie erschreckt zurückzucken. Unbeschreibliches Verlangen brannte in ihm. Ein Verlangen, das an Wahnsinn grenzte. „Himmel, was passiert hier? Was ist das für ein abgefahrenes Zeug?“
Er rang nach Atem. Die geschwollene Ader an seinem Hals pochte in ungesundem Rhythmus.
„Was ist los mit dir?“ Sie umklammerte seine Schultern. „Wir müssen was tun. Ein paar Minuten, und sie kollabiert bei diesen Temperaturen.“
Christopher stieß einen gequälten Laut aus und riss sich los. Wie ein eingesperrtes Tier begann er, hin und her zu laufen. Er raufte sich die Haare, murmelte unverständliche Dinge und schien sie nicht mehr wahrzunehmen.
Im nächsten Moment zog er wie von Furien gejagt seine Kleidung aus. Nein, er fetzte sie sich regelrecht vom Leib. Es war eindeutig, was er tun wollte. Blankes Entsetzen packte sie. „Bist du irre? Du wirst genauso erfrieren wie sie.“
Aber er tat es. Ungeachtet der hohen Wellen und der eisigen Kälte stürzte auch er sich in das Wasser und verschwand. Verschluckt vom Mahlstrom der Wellen.
Maya war wie gelähmt. Fieberhaft rang sie um eine Entscheidung, was zu tun war. Die beiden würden ertrinken und ihr würde man die Schuld geben. Finn tauchte aus der Dunkelheit auf und kläffte das Wasser an. Sie musste etwas tun. Sie musste. Verdammt! Kurzerhand zog sie Schuhe und Jacke aus und spürte die Kälte der Nacht wie ein Band aus Eisen um ihren Brustkorb. Etwas Helles war dort im dunklen Wasser. Ein lebloser Körper? Sie hatte keine
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