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Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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Alter.«
    Sie blinzelte, während sie versuchte, sich den unsterblichen Herrn über die See als Elfjährigen vorzustellen. »Du erinnerst dich daran?«
    Ein Glitzern erschien in diesen silberfarbenen Augen, sodass er einen Moment lang wieder wie ihr Geliebter aussah. »Wir haben –
hatten
– Kinder auf Sanctuary«, erwiderte er. »Viele von ihnen kamen in diesem Alter zu uns.«
    »Dann kennst du dich mit Mädchen aus, die so alt sind.«
    Er antwortete nicht.
    »Ich bin Expertin in frühkindlicher Entwicklung«, sagte Lucy. »Ich weiß, dass das Heranwachsen zum Kotzen ist. Aber während alle anderen mit Nagellack und BHs experimentierten und heimlich im Wald rauchten, versuchte ich, das Abendessen zu kochen und gute Noten zu schreiben, damit ich wie Caleb aufs College gehen konnte. Er war fort, und meine Freunde verwandelten sich in andere Menschen, und ich hasste das alles.«
    »Du magst Verwandlungen nicht.«
    Sie nestelte an der Schärpe ihrer Robe. »Nicht sehr. Ich meine, solange alles bleibt, wie es ist, weiß man doch, was man zu erwarten hat, oder? Man hat irgendwie die Kontrolle. Selbst wenn es einem dabei mies geht.«
    »Du wolltest dich nicht verwandeln.«
    »Das habe ich doch gerade …« Sie ließ die Enden der Schärpe fallen, als sich die Erkenntnis wie ein Abgrund in ihrer Brust auftat. »Oh.«
    Oh.
    »Wir bringen unsere Jugendlichen nach Sanctuary, damit ihnen jemand bei der Verwandlung zur Seite steht«, erklärte Conn. Seine Augen waren tief und dunkel. Sie wünschte sich, er würde sie wieder in die Arme nehmen. Aber er klang eher wie ein Psychiater denn wie ihr Liebhaber. »Du hattest niemanden, der dich darauf vorbereitet hätte. Niemanden, der dich durch deine Entwicklung zur Frau oder deine erste Verwandlung als Selkie begleitet hätte. Du hattest Angst.«
    Wut, jahrelang verkannt, weggedrückt, brannte in ihrer Brust. »Das war nicht meine Schuld.«
    »Natürlich nicht.«
    Sein abweisender Ton fachte das rasende Feuer in ihrem Herzen nur noch mehr an. »Es war ihre Schuld. Die Schuld meiner Mutter. Sie hätte bleiben können. Sie hätte bei uns bleiben sollen. Bei mir.«
    »Sie war eine Selkie.«
    »Sie war selbstsüchtig.« Die Anklage brach aus ihrer schmerzenden Kehle mit all der Heftigkeit eines aufgestauten Kummers hervor.
    »Und du willst nicht wie sie sein.«
    »Nein.«
    »In keinster Weise.«
    »Ich …« Lucy schloss den Mund. Öffnete ihn erneut. »Nein.«
    »Sie wäre zu dir zurückgekehrt«, sagte Conn, und seine Stimme klang so freundlich, dass es ihr auch egal gewesen wäre, wenn er gelogen hätte. »Wenn sie am Leben geblieben wäre. Sie wäre zur rechten Zeit zu dir und Caleb zurückgekehrt.«
    »Wenn man Kind ist, kann man mit ›zur rechten Zeit‹ nichts anfangen«, entgegnete Lucy düster. »Man will nur seine Mommy zurück.«
    »Bei uns ist das anders.«
    »Nicht so viel anders. Du vermisst deinen Vater.«
    Conn zuckte zusammen, als hätte sie ihn mit einer Harpune gepiekst. »Mein Vater ist nicht gestorben. Er ist unter die Wellen gegangen.«
    »Und meiner ist mit dem Boot hinausgefahren und hat sich betrunken. Weg ist weg. Es gibt mehr als eine Art, verlassen zu werden.«
    »Lucy …« Bedauern schwang schwer in seiner Stimme.
    Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren tränenlos. Ausgetrocknet. »Ist schon gut. Mir geht’s gut. Ich bin jetzt erwachsen.«
    »Es kann sein, dass du deine Kraft darauf konzentriert hast, die Verwandlung zu unterdrücken«, äußerte Conn vorsichtig. »Und der Gebrauch dieser Kraft, das Bezähmen deiner Gabe, Tag für Tag, Jahr für Jahr, hat dich stark gemacht.«
    Sie schluckte hart an dem Kloß in ihrer Kehle. »Ja, das ist es, was du willst, nicht wahr?«, würgte sie schließlich mit lediglich einem Anflug von Bitterkeit hervor. »Dass ich stark bin. Dass ich die
targair inghean
bin.« Sie stolperte noch immer über die Aussprache der fremden Worte:
targar ihn-jen.
    Seine Augen verdunkelten sich. »Ich will, dass du du selbst bist.«
    »Dann hättest du mich in Ruhe lassen sollen!«
    Ihre Worte hallten zwischen ihnen wider. Sie hätte sie zurückgenommen, wenn sie gekonnt hätte.
    Da stand sie und fühlte sich jämmerlich. Dies hier war nicht ihre Schuld.
    Oder seine, gab sie gerechterweise zu. Manchmal war es zum Kotzen, wenn man beide Seiten verstehen konnte.
    »Das kann ich nicht«, erwiderte er grimmig.
    Sie nickte resigniert. »Wegen der Prophezeiung.«
    In seinen Augen blitzte es auf. »Weil das nicht
du
warst«, blaffte er.

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