Meeresrauschen
ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum Du mich nicht sehen willst. Okay, vielleicht erinnerst Du Dich nach dieser irrsinnig langen Zeit auf Guernsey nicht mehr so richtig daran, dass wir mal beste Freundinnen waren. ;-)
Wahrscheinlich geht es Dir aber einfach bloß megabeschissen. Melde Dich doch bitte, falls Du irgendwann vorhast, wieder Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen.
Ich vermisse Dich schrecklich, aber ich lasse dir natürlich alle Zeit der Welt.
Sina
Meine Finger zitterten, als ich die Karte in den Umschlag zurückschob
und diesen dann in der obersten Schublade verstaute.
Ich wollte Sina nicht wegsperren. Ich wusste nur nicht, was
ich ihr sagen sollte. – Immer noch nicht.
Eine Woche später, am ersten Samstagnachmittag im Mai, verließ
ich zum ersten Mal das Haus, und zwar allein. Mam war
mit ihrer Yogagruppe unterwegs. Ganz sicher würde sie nicht
vor acht oder neun Uhr abends zurück sein.
Es war seltsam, die Treppen hinunterzulaufen und durch
die Haustür auf den Bürgersteig hinauszutreten. Jedes Haus,
jede Straßenecke kam mir vertraut vor, und trotzdem schien
mir alles völlig fremd zu sein. Fast so, als ob ich es noch nie
gesehen hätte.
Mehr oder weniger automatisch hielt ich mich rechts in
Richtung Wakenitz, bis mir einfiel, dass ich diesen Weg früher
immer gemieden hatte. Abgesehen von der Ostsee war die Wakenitz
eines der größeren Gewässer in und um Lübeck, und damals
hatte allein der Gedanke daran, an ihrem Ufer entlangzugehen,
dieses eklige Jucken über meinen Knöcheln ausgelöst.
Jetzt war da gar nichts, und so lief ich eine ganze Weile einfach
geradeaus, die Brücke entlang über die Wakenitz hinweg,
ohne dass es mir auch nur im Geringsten etwas ausmachte,
und hatte das Gefühl, ewig so weiterspazieren zu können. Irgendwann
merkte ich, dass die Leute mich anstarrten, und ich
gab mir Mühe, mich langsamer und weniger geschmeidig zu
bewegen, damit ich nicht so auffiel.
Der Himmel über mir war tiefblau und die Sonne brannte
beinahe hochsommerlich auf mich herab. Mit Jeans, Sneakers
und Pulli war ich auf jeden Fall viel zu warm angezogen. Also
machte ich kehrt und spazierte auf der anderen Straßenseite
zurück.
Die Oberfläche der Wakenitz schimmerte verführerisch. Ich
spürte eine sanft prickelnde Erregung in mir aufsteigen und
mit einem Mal kam auch das Jucken zurück. Ich hatte keine
Angst – im Gegenteil, ich wollte so nah wie möglich ans Wasser,
am liebsten mitten hinein. Aber das verbot ich mir. Ich
zwang mich sogar, einen Moment auf der Brücke stehen zu
bleiben, den Blick dabei unverwandt auf das lockende Blaugrün
zu richten und das Jucken, das inzwischen in ein heißes
Brennen übergegangen war, zu ertragen.
Die Nixe in mir begehrte auf. Sie war ein wildes, impulsives
Wesen, das es zu zähmen galt. Ich würde ihr nicht gestatten,
sich auszuleben und noch einmal so etwas Grausames zu tun
wie mit Frederik. Und als ich kurz darauf das Ende der Brücke
erreichte und die Wakenitz hinter mir lassen konnte, wusste
ich, dass ich den ersten Etappensieg davongetragen hatte.
Das Brennen ließ nach, zurück blieb ein unangenehmes
Kratzen auf der Haut, das meinen gesamten Körper überzog.
Außerdem fühlte sich mein Hals entsetzlich trocken an.
Ich beschloss, meinen Ausflug zu beenden, überquerte die
Moltkestraße an der Ampel und steuerte auf den Hauseingang
Nummer 28 zu.
Mam und ich wohnten ganz oben, direkt unter dem Dach.
Früher hatte ich dieses Haus mit dem weißen Sichtgitter über
der Tür geliebt. Doch früher war inzwischen ewig lange her.
Vier Stufen auf einmal nehmend, eilte ich die Treppe hinauf
und schlüpfte in die Wohnung. Bereits im Flur riss ich
mir die Klamotten vom Leib, stieß die Badezimmertür auf und
stellte mich unter die Dusche.
Ich hielt mein Gesicht mitten in den Strahl, öffnete Mund
und Nase und ließ das Wasser so lange durch meine Lungen
strömen, bis das Kratzen verschwand und mein Durst gelöscht
war.
Es war befriedigend und quälend zugleich, denn obwohl
meine Haihaut sich in der Sockenkiste ganz unten in meinem
Kleiderschrank befand, drängten meine Beine die ganze Zeit
über mit aller Macht zusammen. Ich biss die Zähne aufeinander,
konzentrierte mich auf den glatten Fliesenboden unter
meinen Fußsohlen – und verwandelte mich nicht.
Mam gegenüber erwähnte ich nichts von meinem Ausflug,
allerdings eröffnete ich ihr bei unserem späten gemeinsamen
Abendessen, dass ich mich mit Sina, Bille und Sarah treffen
wollte.
Weitere Kostenlose Bücher