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Meeresrauschen

Meeresrauschen

Titel: Meeresrauschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Schröder
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anderen Silberwerkstätten,
die es auf den Kanalinseln gab.
    Vielleicht ist es ja doch ein Schmuckstück, dachte ich, eine
Kette mit einem Anhänger – zum Beispiel einem kleinen silbernen
Esel –, aber da hatte ich den Deckel bereits abgehoben.
    Noch während ich das Bewusstsein verlor, wurde mir klar,
dass
ich
der Esel war.

Es war wie eine Implosion im Stockdunkeln. Die Außenwelt
existierte nicht mehr und in meinem Inneren flogen mir Brocken
so hart wie Mauersteine um die Ohren.
    Elodie!
, hörte ich dazwischen Gordys Stimme.
Bitte, bleib hier.
Ich hab doch nur dich.
Er hatte meine Schultern gepackt und
schüttelte mich.
Elodie! … Elodie!!!
    Mittlerweile waren die Steine allesamt niedergeprasselt.
Eine dicke Staubwolke wirbelte umher und sank nun langsam
auf mich herab. Darüber wurde es wieder heller, ich sah etwas
Weißes, aber ich konnte nicht atmen, denn meine Nase, mein
Hals und meine Lunge waren voller Staub.
    »Elodie!« Er schlug mir ins Gesicht und dann veränderte
sich plötzlich seine Stimme. Sie wurde schrill und panisch und
sie gehörte auch nicht mehr zu ihm. »Atme! Verdammt noch
mal!«
    Es war nicht Gordy, es war Mam.
    Ich lag neben meinem Schreibtisch auf dem Boden und sah
in ihre riesigen Augen.
    »Um Gottes willen, Elodie!«, stieß sie hervor. Dann drückte
sie mich an sich. »Und ich dachte schon … Ich dachte schon …«
Ich spürte ihre Lippen auf meiner Wange und an meinem Ohr
und ihre Hände in meinem Nacken und auf meinem Rücken.
»Komm hoch … komm schon, Elodie, hinsetzen.«
    Widerstandslos ließ ich mich hochziehen. Es gab nichts Einfacheres,
als ihrer Stimme zu folgen.
    »Was ist passiert?«, fragte sie und streichelte mein Gesicht.
    Ihre Hände waren ebenso warm wie ihr Blick, ich hätte
mich darin auflösen können.
    »Ich bin hier«, wisperte ich. »Ich bin wieder da.«
    Und dann heulte ich los.

    Keine Ahnung, wie lange wir so dagesessen hatten, uns fest
in den Armen haltend und sanft wiegend. Ich wusste nicht
einmal mehr, wann ich mit dem Weinen aufgehört hatte, ich
wusste nur, dass es wehtat, höllisch weh, wieder ganz und gar
hier zu sein – und dass es dennoch richtig war.
    Schließlich war es meine Mutter, die sich von mir löste und
mich mit ernsten Augen ansah. »Bitte sag mir, was passiert ist,
Elodie.«
    »Das ist nicht so leicht zu erklären.« Suchend ließ ich meinen
Blick über den fliederfarbenen Teppichboden gleiten. »Wo ist
die Schachtel?«
    »Welche Schach… Ach so, hier!« Meine Mutter hob etwas
auf, das neben ihr lag, und setzte es auf meine Handfläche.
    Es war der Deckel.
    »Und wo ist der Rest?«, fragte ich, da sah ich sie auch schon –
Gordys Träne. Sie war unter meinen Schreibtisch gerollt.
    Ich streckte mich aus, nahm sie vorsichtig zwischen meine
Finger und legte sie behutsam in den Deckel der Schachtel.
    Mam runzelte die Stirn. »Und was ist das? Eine Perle?«
    »So etwas Ähnliches.« Nur unendlich viel wertvoller. Es
grenzte an ein Wunder, dass Tante Grace sie in der Steppnaht
meiner Matratze gefunden hatte.
    »Und was hat es zu bedeuten?«, fragte meine Mutter.
    »Alles«, sagte ich leise. »Dass ich wieder hier bin … dass ich
weiterleben kann.«
    Mam schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich verstehe
nicht.«
    »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
    Während ich die kristallisierte Träne betrachtete und dagegen
ankämpfte, dass Trauer und Schmerz mich übermannten,
hielt meine Mutter ihren Blick ängstlich und erwartungsvoll
zugleich auf mich gerichtet. Die Frage, ob ich ihr alles erzählen
würde, stellte sich mir nicht mehr, ich wusste nur noch nicht
so recht, wo ich beginnen sollte.
    »Es gibt einen Grund, weshalb Tante Grace vorgeschlagen
hat, dass ich für eine Weile zu ihr kommen soll«, sagte ich
schließlich.
    Mam nickte. »Ja, sicher, wegen deines Va…«
    »Nein«, unterbrach ich sie. »Natürlich war das auch ein
Grund, aber nicht der entscheidende. Es gibt nämlich ein großes
Geheimnis in unserer Familie.«
    »Ach ja …?« Meine Mutter stieß einen Schwall Luft aus.
    »Ja«, sagte ich. »Und es betrifft deine Großmutter.«
    »Also Tante Gracies Mutter?«
    Ich nickte. »Ich habe einen Brief«, fuhr ich fort, während ich
das Klappfach in meinem Schreibtisch öffnete und ihn herausholte.
»Ich habe ihn selber noch nicht gelesen, aber ich weiß
ungefähr, was drinsteht.«
    »Weil Tante Grace es dir erzählt hat?«
    »Ja«, sagte ich noch einmal. »Sie und Oma Holly sind nämlich
nur Halbschwestern …

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