Meeresrauschen
Blick auf mich. »Aber es fühlt sich ganz ähnlich an.
Stimmt’s?«, fragte sie vorsichtig.
Ich schüttelte den Kopf.
»Gordian ist nicht tot«, wiederholte ich.
Er war irgendwo da draußen im Meer und suchte nach seiner
Bestimmung.
Keine Ahnung, warum ich ihn getroffen hatte.
Ich verstand einfach nicht, was das alles für einen Sinn
haben sollte. Fast wünschte ich, meine Urgroßmutter hätte
Patton nie kennengelernt.
»Entschuldige bitte, Liebes, ich hätte nicht davon anfangen
sollen«, sagte Mam leise.
Ihre Stimme klang belegt, und ihr Blick war so offen und
warm, dass sich der schmerzhafte Knoten, der meine Brust so
eng machte, ein wenig löste.
»Schon gut«, erwiderte ich krächzig. »Ich möchte einfach
nicht darüber reden.«
»Okay.« Mam blinzelte eine einzelne Träne, die sich in ihren
Wimpern verfangen hatte, fort und versuchte ein Lächeln.
»Und ich habe auch keinen Hunger«, sagte ich und stand
langsam wieder auf. »Zumindest im Augenblick nicht«, fügte
ich schnell hinzu, als ich merkte, dass meine Mutter etwas einwenden
wollte. »Ich glaube, ich gehe erst mal unter die Dusche.«
»Gut.« Sie nickte. Dann schien ihr etwas einzufallen. »Übrigens
ist ein Päckchen für dich angekommen. Von Tante Grace.
Ich nehme an, es ist dein Handy.«
»Hmm.« Zögernd tappte ich in den Flur. Ich wusste wirklich
nicht, ob ich gerade überhaupt in der Lage war, mich mit Post
von meiner Großtante auseinanderzusetzen.
»Es liegt auf der Kommode neben dem Telefon«, rief meine
Mutter mir nach, in derselben Sekunde sah ich es auch schon.
Es war zu groß, um nur ein Handy zu enthalten, es sei denn,
Tante Grace hatte gerade keinen kleineren Karton zur Hand
gehabt und den Innenraum mit höllisch viel Zeitungspapier
ausgestopft.
Ich verharrte einen Moment, betrachtete das Päckchen abschätzend
– und entschied mich schließlich für die Dusche.
Danach würde es mir hoffentlich wieder besser gehen.
Ich duschte lauwarm und auch nur sehr kurz. Trotzdem war
das Badezimmer hinterher vollkommen verdampft, weil ich
vergessen hatte, das Fenster zu öffnen oder wenigstens auf
Kipp zu stellen.
Ich fischte mein Handtuch vom Haken und hüllte mich
darin ein. Ein weiteres kleineres wickelte ich als Turban um
meine Haare. Ich war gerade im Begriff, das Bad zu verlassen,
da fiel mein Blick auf den total beschlagenen Spiegel.
Große dunkelblaue Augen sahen mich an. Ich konnte jede
Wimper und sogar die einzelnen Härchen meiner Augenbrauen
erkennen, ja, selbst das winzige Muttermal auf meinem
rechten Nasenflügel. Irritiert schüttelte ich den Kopf,
dann wischte ich mit dem Handrücken einen breiten Streifen
Kondenswasser von meinem Spiegelbild. – Es war kein Unterschied
auszumachen, zumindest nicht für meine Augen.
»Nixe«, murmelte ich.
Dichter Nebel würde mein Sehvermögen aller Wahrscheinlichkeit
nach also genauso wenig beeinträchtigen wie Dunkelheit.
Es würde nicht einfach sein, mir anderen Menschen gegenüber
davon nichts anmerken zu lassen. Aber gut, dann war
das eben meine nächste Aufgabe. Ich war froh, wenn ich etwas
zu tun hatte, das meine ganze Konzentration erforderte und
mich ein wenig ablenkte.
Ich warf noch einmal einen Blick auf mein Spiegelbild, und
plötzlich rückten meine Brauen, die Wimpern und das Muttermal
in den Hintergrund, und die winzig feine Narbe, die
von Gordys Zähnen zurückgeblieben war, trat überdeutlich
hervor. Im nächsten Moment sah ich sein Gesicht, das Entsetzen
in seinen Augen und das Blut auf seiner Wange.
Mein Herz polterte los. Einige unendlich lange Sekunden
starrte ich wie benommen in den Spiegel. Ich spürte, wie
meine Kehle anschwoll, wie ich schreien wollte, dieser Schrei
dann aber irgendwo tief in mir erstickte.
Keuchend wandte ich mich ab.
Gordys Gesicht verschwand, aber dafür sah ich jetzt das von
Frederik, seine bleiche Haut und den Tod in seinem Blick.
Nein! Nein! Nein!
Es schrie in mir. Es tobte.
Ich öffnete den Mund, um es herauszulassen, aber dann
dachte ich an Mam und biss mir so fest in die Unterlippe, dass
ich Blut schmeckte.
Gordy ist nicht tot.
Frederik lebt.
Ich habe niemanden umgebracht.
Die Nixe in mir ist gefährlich, aber ich kann sie kontrollieren.
Ich zwang mich, tief ein- und wieder auszuatmen. Einmal,
zweimal … zehnmal. Allmählich erlangte ich die Fassung wieder.
Die Ruhe kehrte zurück und ich sah ein letztes Mal in den
Spiegel.
»Ich werde sehr stark und vollkommen unabhängig sein,
Cyril«, murmelte ich und reckte
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