Meeresrauschen
gewesen.«
»Was?«
Unglauben – vielleicht war es auch eher Fassungslosigkeit –
breitete sich auf Mams Gesicht aus, und schon war ich mir
wieder unsicher, ob es wirklich klug war, ihr die
ganze
Wahrheit
zu sagen. Im Augenblick, jetzt und hier, da ich zusammen
mit ihr auf dem Boden in meinem Zimmer saß, wünschte ich
mir nichts sehnlicher, als mein Geheimnis mit ihr teilen zu
können.
»Aber das hieße dann ja, dass Opa Paul …«, begann Mam
stockend.
»Genau«, bestätigte ich, »nicht dein leiblicher Großvater war,
sondern …« Mit klopfendem Herzen öffnete ich den Umschlag
und zog das Foto heraus. Es hatte den für die damalige Zeit so
typischen weißen Zackenrand und es war auch schon ziemlich
vergilbt. Trotzdem konnte man den jungen Mann, der darauf
abgebildet war, noch recht gut erkennen. »Patton«, vervollständigte
ich meinen Satz und reichte meiner Mutter das Foto.
Ihre Hände zitterten, als sie es entgegennahm, und ihre
ganze Körperhaltung und ihre Mimik drückten zugleich Neugier
und Abwehr aus.
»Patton wie?«, fragte sie leise.
»Nur Patton.«
Mam schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht mal seinen Nachnamen
gekannt? … Du meine Güte!«
»Er war nicht wichtig«, erwiderte ich, während ich nun den
Brief auseinanderfaltete. »Vielleicht hatte er auch gar keinen.«
»Wie bitte?« Meine Mutter sah mich verständnislos an.
Dann schlug sie ihre Beine unter und rutschte so dicht an
mich heran, dass wir die Zeilen meiner Urgroßmutter zusammen
lesen konnten.
Holly, meine Liebste,
wenn Du diesen Brief in Deinen Händen hältst, werde ich
bereits unter der Erde ruhen. Mag sein, dass Du es als feige
empfindest, dass ich Dir nicht bereits zu Lebzeiten beziehungsweise
spätestens nach Pauls Tod von meinem großen Geheimnis
erzählt habe, einem Geheimnis, das ja in ganz besonderer Weise
auch Dich betrifft. Tatsächlich habe ich über viele Jahre hinweg
mit mir gekämpft, mich aber letztendlich immer wieder dazu
durchgerungen, es für mich zu behalten. Ich hoffe, vor allem um
Deiner selbst willen, dass Du mir das verzeihen kannst.
Paul, Gracie und Dich, Euch verband eine so wundervolle Leichtigkeit
und Wärme, ich wäre mir schäbig vorgekommen, hätte
ich dieses Besondere, das Eure Beziehung ausmachte, so fahrlässig
zerstört.
Jetzt steht mein eigener Tod bevor und ich will nicht länger
schweigen. Denn nun, da ich es nicht mehr kann, ist es an Dir,
ein Auge auf Deine Nachkommen zu haben.
Meine geliebte Holly, sei bitte ganz gefasst, wenn Du hörst, was
ich Dir zu sagen habe: Du bist kein gewöhnliches Kind.
»… Du trägst das Gen eines Meermenschen in dir«, las Mam
nun laut. Ihre Hände zitterten mittlerweile so sehr, dass sie
den Brief kaum noch halten konnte. Sie sah mich an. »Was,
zum Teufel, hat das zu bedeuten, Elodie?«
»Dass Patton aus dem Meer kam«, sagte ich und meine
Stimme klang furchtbar krächzig. »Er … er war so etwas wie
ein Nix. Deine Großmutter ist von ihm schwanger geworden«,
fuhr ich stockend fort. »Sie hatte immer Angst, dass Oma
Holly sich eines Tages verwandeln würde.«
Mam sah mich irritiert an. »Verwandeln? In was denn, bitte
schön?«
Eigentlich hätte sie es sofort begreifen müssen, doch offenbar
wehrte sie sich innerlich so sehr dagegen, dass ihr Verstand
nicht in der Lage war, die Fäden zusammenzuführen, und anstatt
es klar und deutlich auszusprechen und Mam damit womöglich
noch mehr zu erschrecken, nahm ich ihr einfach den
Brief aus der Hand und las weiter.
»Wie schon in den beiden Jahren zuvor verbrachte ich einen
Teil der Sommerfrische auf einer kleinen Insel vor der griechischen
Küste. Ich liebte das Meer und war jeden Tag am
Strand, um den Wellen und den Seevögeln zuzusehen, und
plötzlich stand er vor mir: Patton, der Mann auf dem Foto,
dein Vater. Es klingt vielleicht dumm, aber ich war vom ersten
Augenblick an wie verzaubert von ihm. Wir verbrachten jede
Minute miteinander, saßen stundenlang im Sand, wir küssten
und wir liebten uns, und wenn Patton kurz vor Sonnenaufgang
für einige Zeit ins Meer zurückkehrte, konnte ich ihm
dabei zusehen, wie sich sein Leib in den eines großen grauen
Meerestieres verwandelte.«
Mam gab ein leises Keuchen von sich, als ich jedoch innehielt
und ihr einen fragenden Blick zuwarf, winkte sie ab und
bedeutete mir weiterzulesen.
»Wir sprachen nie über unsere Zukunft und es gab auch
keinen Abschied. So unerwartet, wie Patton aufgetaucht war,
verschwand er wieder. Zwei Tage vor meiner Abreise
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