Meeresrauschen
wartete
ich vergeblich auf ihn. Zu Anfang war ich vollkommen am
Boden zerstört. Ich war so entsetzlich traurig und so wund vor
Sehnsucht nach ihm, dass ich nicht einmal weinen konnte.
Doch schon bald merkte ich, dass ich Leben unter meinem
Herzen trug, nämlich dich, meine wundervolle kleine Holly.
Und als ich wenig später Paul traf, schient ihr zwei mir ein
Geschenk des Himmels zu sein.
Ich habe Paul aufrichtig geliebt, aber ich habe nie so für ihn
empfunden wie für Patton. Ihn zu verlieren, war die härteste
Prüfung meines Lebens, dennoch möchte ich die Zeit mit ihm
nicht missen.«
Ich geriet ins Stocken und musste einmal tief Luft holen,
um meine Tränen wenigstens noch für ein paar Sekunden
zurückzuhalten. »Ich bin unendlich dankbar für jede Minute,
die ich mit ihm verbringen durfte, und nehme meine Liebe
mit mir in den Tod«, schloss ich mit bebender Stimme, dann
heulte ich los.
Wieder schloss Mam ihre Arme um mich und wiegte mich
sanft hin und her. Sie streichelte meinen Rücken, küsste mein
Haar und wartete geduldig, bis ich mich wieder beruhigt hatte,
und dann stellte sie eine Frage, mit der ich im Leben nicht
gerechnet hatte.
»Dein Gordian ist ebenfalls ein Meermann. Hab ich recht?«
Ich nickte und schluckte – immer und immer wieder. Mein
Hals war schrecklich trocken und tat so furchtbar weh und
abermals rannen mir die Tränen in Sturzbächen über das Gesicht.
Sie perlten mein Kinn entlang und fielen in meinen
Schoß hinunter, wo sie sich als kleine glitzernde Kristalle in
meinen geöffneten Händen sammelten.
»Elodie … was ist das?« Vorsichtig, beinahe ängstlich, berührte
meine Mutter die zu Glas erstarrten Tränen.
»Mam«, sagte ich, »Mam …«, und wischte mir schniefend
über die Augen. »Holly hat sich nicht verwandelt. U-und du
auch nicht, oder?«
»Was?« Es war nur ein Hauch, der über ihre Lippen kam.
War es tatsächlich möglich, dass sie es noch immer nicht
begriffen hatte?
»Aber ich, Mam«, flüsterte ich. »Ich habe keine Angst mehr
vor dem Wasser. Ich kann viele Meter tief tauchen … Ich kann
sogar im Meer atmen.«
Meine Mutter war so blass geworden, dass ihre Haut beinahe
durchsichtig erschien. Mir kam es vor, als könnte ich
jedes noch so feine Äderchen erkennen. Aber ich konnte sie
jetzt nicht schonen. Sie sollte alles wissen.
»Ich bin eine Nixe, Mam, ein Halbwesen. Wenn ich ins
Meer tauche, verwandeln sich meine Beine in die Schwanzflosse
eines Hais.«
»Lauren und Bethany sind durch den Kuss eines Delfinnixes
gestorben«, sagte ich.
Inzwischen hockten Mam und ich Seite an Seite mit dem
Rücken an die Wand gelehnt auf meinem Bett und hatten
uns die Decke bis zum Kinn heraufgezogen. Dabei war es
nun wirklich nicht kalt im Zimmer, die goldene Maisonne,
die zum Fenster hereinschien, hüllte uns in ihr warmes Licht.
Trotzdem hatte ich spüren können, wie meine Mutter bei
jedem neuen Detail meiner Geschichte von innen heraus
immer kälter wurde. Das Zittern ihres Körpers übertrug sich
auf meinen, und schon bald hatte ich das Gefühl, nicht nur
für mich, sondern auch für sie stark sein zu müssen. Die weiche
Decke und das vertraute Blumenmuster auf dem Bezug
halfen mir dabei. Ein bisschen war es so, als hätte ich mich
in das wohlbehütete Nest meiner Kindheit verkrochen. Ich
fühlte mich zwar nicht wirklich be-, aber immerhin doch ein
wenig geschützt.
»Du siehst, die Geschichte um die
Mörderbestie
ist also doch
keine Mär«, endete ich schließlich. »Und ich kenne sogar ihren
Namen.«
»Dann bist du also auch deswegen so überstürzt nach Hause
gekommen?«, fragte Mam, die meinem Bericht gelauscht hatte,
ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen.
Ich nickte. »Letztendlich schon. Allerdings nicht, um zu
flüchten, wie du jetzt vielleicht denkst.«
»Warum denn sonst?«, erwiderte sie. »Es wäre äußerst leichtfertig,
wenn du dich einer solchen Gefahr aussetzt.«
»Mam«, sagte ich, tastete nach ihrer Hand, die auf ihrem
Knie ruhte, und umschloss sie mit meinen Fingern. »Javen
Spinx und Cyril hätten mich beschützt. Sie sind … sehr stark.«
Dieses Herunterspielen ihrer Talente schien mir meiner Mutter
gegenüber durchaus angemessen zu sein. Okay, sie sollte
die Wahrheit wissen, ich wollte ihr aber auch nicht zu viel auf
einmal zumuten. »Außerdem geht es hier gar nicht so sehr um
mich«, setzte ich zögernd hinzu.
»Ach nein?« Mam klang äußerst empört, und ihre Augen
funkelten, als sie mich ansah. »Mir schon!«
»Du
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