Meeresrauschen
brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte ich schnell.
»Ich bin ja jetzt hier.«
»Und das bleibst du auch … hoffe ich!«
Ich warf einen Blick auf das Wasserglas, das auf meinem
Nachttisch stand und in dem ich meine zu Glas gewordenen
Tränen gesammelt hatte. Das Sonnenlicht spiegelte sich in
den Kristallen und ließ sie gleißend hell erscheinen.
»Ja, Mam, ich bleibe hier«, murmelte ich. »Ich gehe nie wieder
auf die Kanalinseln zurück.«
Genau genommen wusste ich nicht mal, ob ich überhaupt
jemals wieder ins Meer hinabtauchen durfte. Dieser Gedanke
erfüllte mich mit Wehmut, und über meinen Knöcheln spürte
ich ein sanftes Kribbeln, das sich langsam bis zu meinen Knien
hinaufzog.
Der Auslöser war gar nicht die Angst vor dem Meer, so
wurde mir plötzlich klar, sondern die Sehnsucht nach ihm.
Die Sehnsucht, gegen die ich mich seit meiner Kindheit vehement
gewehrt hatte. Und mit einem Mal wusste ich, dass
ich ins Wasser zurückmusste, eines Tages, wenn Gordy seiner
Bestimmung gefolgt war und keine Gefahr mehr bestand, dass
er Kyan oder andere Nixe mit sich an Land zog.
»Ich verstehe das alles nicht wirklich«, hörte ich meine Mutter
sagen. »Und ich glaube, ich will es auch gar nicht.« In
ihren Augen lag ein Anflug von Verzweiflung. »Mag sein, dass
ich zu schlicht gestrickt bin, um all diese fremdartigen Dinge
erfassen zu können. Das Meer war mir nie unheimlich, mittlerweile
ist es das aber. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie
du aussiehst, wenn du deine Beine verlierst und …« Sie sprach
immer abgehackter und immer leiser und am Ende brach ihr
die Stimme ganz weg. Sie musste einige Male schlucken, ehe
sie weiterreden konnte. »Für mich bist du meine Tochter, Elodie,
ich möchte, dass du glücklich bist … und dass dir nichts
geschieht. Und alles andere will ich lieber gar nicht so genau
wissen.«
»Ja, Mam«, erwiderte ich leise und ließ meinen Kopf auf
ihre Schulter sinken. »Ich weiß. Und ich verspreche dir, dass
alles wieder gut wird.«
Sie nickte und drückte mich an sich, noch immer zitternd.
Ich spürte, dass von ihr dieselbe Verlorenheit und der gleiche
Schmerz ausgingen, die auch ich empfand. In gewisser Hinsicht
trugen wir das gleiche Schicksal und das verband uns für
diesen Moment auf eine einzigartige und wunderbare Weise.
Ich fragte mich, ob sie nun wohl auch ihre Zeit mit Javen
Spinx in einem anderen Licht sah, hütete mich aber, das
Thema anzusprechen. Mein Gefühl sagte mir, dass sie diese
Geschichte – zumindest vorläufig – mit sich selbst ausmachen
wollte. Bestimmt brauchte Mam eine Weile, bis sie alle Neuigkeiten
verdaut hatte. Ich jedoch hatte mein inneres Versteck
inzwischen vollständig verlassen. Wenn ich nicht von innen
verdorren wollte, musste ich jetzt weitergehen.
Meine Mutter war selig, weil ich wieder ganz normal mit ihr
kommunizierte und mich nicht länger in meinem Zimmer verkroch.
Sie hatte ein Stück ihrer alten Elodie zurückbekommen
und das machte es uns beiden leichter.
Ich wusste, dass sie Pa vermisste und eine höllische Angst
davor hatte, mich auch noch zu verlieren, und sie ahnte, dass
meine Entscheidung, mich meinem Schicksal zu stellen, meine
Seele fast entzweiriss. Darüber reden wollte sie allerdings nicht.
Stattdessen fing sie an, mich in ähnlicher Weise zu umsorgen,
wie Tante Grace es getan hatte. Sie verwickelte mich in
Gespräche über Gott und die Welt, solange sie nur nicht mit
dem Meer oder Tod und Verlust zu tun hatten. Sie legte meine
Wäsche zusammen, kreierte neue Sandwiches und fing sogar
an zu kochen.
Zwei Tage spielte ich dieses Spiel mit. Am Morgen des dritten
steckte ich mein Ladekabel ins Handy und verband es mit
der Steckdose.
Nachdem ich geduscht, meine mittlerweile sehr trockene
Haut gründlich eingeölt und mich angekleidet hatte, schickte
ich eine SMS an Sina.
Sorry, dass ich mich jetzt erst wieder melde,
aber ich habe diese zeit für mich einfach gebraucht.
Bis wann hast du heute schule?
Ich gehe nachher auf den friedhof und würde mich freuen, wenn du
mitkommst
((elodie))
Es dauerte bis zur zweiten großen Pause, dann antwortete sie
mir.
Ok, ich komme. Sollen wir uns gegen halb vier am bahnhof treffen?
Sina
Dass sie mir so knapp und nüchtern antwortete, verletzte mich
nicht, ich konnte es sogar sehr gut verstehen. Und natürlich
hoffte ich, dass es nichts mit Frederik zu tun hatte.
Allerdings hatte es wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu
zerbrechen. Wenn Frederik Sina irgendetwas über
Weitere Kostenlose Bücher