Meeresrauschen
trotzig mein Kinn vor. »Worauf
du dich verlassen kannst!«
Um Mam nicht zu verärgern, kippte ich noch rasch das
Fenster, bevor ich hinausschlüpfte und mir anschließend in
meinem Zimmer frische Sachen aus dem Schrank nahm und
überzog, ohne mich vorher abzutrocknen. Ich mochte das
Gefühl von Nässe auf meiner Haut, mittlerweile föhnte ich
mir nicht einmal mehr die Haare, damit das Wasser möglichst
lange auf meine Schultern und meinen Rücken tropfte.
Neben meinem Kleiderschrank hatte sich in den letzten
Tagen ein beachtlicher Haufen müffelnder Schmutzwäsche
angesammelt. Ich würde ihn endlich in die Maschine stecken
und auch sonst mal ein wenig Ordnung in meinem Zimmer
machen müssen. Nicht für mich natürlich, sondern für meine
Mutter. Wenigstens
sie
sollte glauben, dass endlich wieder Normalität
in mein Leben einkehrte.
Innerhalb von einer halben Stunde hatte ich die Waschmaschine
gefüllt und gestartet, mein Bett neu bezogen und mein
Zimmer aufgeräumt. Nachdem ich noch eine Schale Müsli verdrückt
hatte, fühlte ich mich dem Inhalt von Tante Graces
Päckchen einigermaßen gewachsen.
Ohne dass Mam, die sich in der Küche zu schaffen machte,
etwas davon mitbekam, fischte ich es von der Kommode und
verzog mich damit sofort wieder in mein Zimmer. Ich dachte
sogar kurz darüber nach, die Tür zu verriegeln, ließ es dann
aber sein.
Behutsam legte ich das Päckchen auf meinen Schreibtisch
und begutachtete es noch einmal von allen Seiten. Schließlich
nahm ich es wieder auf und schüttelte es leicht neben meinem
Ohr, doch ich konnte kein Rappeln hören.
»Okay«, sagte ich entschlossen. »Dann wollen wir mal zur
Operation schreiten … Schwester, das Skalpell, bitte!«
Ich nahm das Cuttermesser aus dem Utensilo und öffnete
das Päckchen mit einem gezielten Schnitt.
»Das hättest du auch nicht besser hinbekommen, liebe Großtante
«, murmelte ich, während ich die beiden Pappdeckel zur
Seite klappte. Zeitungsbällchen quollen mir entgegen.
Ich schob sie heraus, sodass sie auf dem Tisch und auf dem
Boden neben mir landeten, und förderte nacheinander eine
Ausgabe der
London Times
, eine Karte, auf der ein grasender
Esel abgebildet war, mein sorgsam in meinen offenbar ebenfalls
vergessenen Pulli eingewickeltes Handy, den Brief von
Oma Holly und eine kleine grüne Schachtel zutage.
Den Pulli faltete ich zusammen und legte ihn auf alle anderen
in meinen Kleiderschrank und das Handy bekam einen
vorläufigen Platz in der Nachttischschublade. Danach sammelte
ich die Zeitungsbällchen auf, warf sie in den Karton zurück
und stellte ihn neben den Papierkorb. Die restlichen vier
Gegenstände platzierte ich fein säuberlich auf dem Schreibtisch.
Ich setzte mich und betrachtete ein paar Minuten lang den
Esel, bevor ich die Karte in die Hand nahm und las, was Tante
Grace mir geschrieben hatte.
Meine liebe Elodie,
wusstet Du eigentlich, dass wir Guernseyaner von den Leuten
aus Jersey »Donkeys« genannt werden? Nun ja, offensichtlich
haben unsere lieben Inselnachbarn gar nicht so unrecht damit.
Ich zumindest kann dieses Prädikat durchaus für mich in Anspruch
nehmen. Hätte ich nämlich gleich nach Deiner Abreise
einen Blick durch das Apartment streifen lassen, hättest Du bis
auf die Dienstagsausgabe der »London Times« all diese Dinge
wahrscheinlich schon längst bei Dir in Lübeck haben können.
Die Wahrheit ist: Ich habe es einfach nicht über mich gebracht,
es zu betreten. Es war auch so schwer genug für mich, an Dich
zu denken und Dich nicht ganz furchtbar zu vermissen!
Als Deine Mam mir dann schrieb, dass Du Dein Handy vermisst,
habe ich dort oben endlich Ordnung gemacht.
Ich hoffe, dass es Dir inzwischen ein bisschen besser geht.
Ich drücke Dich, mein Herz.
Deine Tante Grace
PS: Bitte grüße Deine Mam ganz lieb von mir.
Ich las mir die Karte noch ein zweites Mal durch, dann stellte
ich sie mit dem Esel nach vorn in das Regal am Kopfende meines
Bettes. Ich vermisste Tante Grace. Ich vermisste sie sogar
ganz furchtbar. Aber damit würde ich schon klarkommen, so
wie mit allem anderen auch.
Anschließend richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die
Zeitung.
Tante Grace hatte mir tatsächlich die ganze Ausgabe geschickt,
obwohl nur ein Artikel wirklich interessant für mich
war. Er war ziemlich weit unten auf Seite drei abgedruckt,
meine Großtante hatte ihn mit leuchtend gelbem Textmarker
eingekringelt.
Irrtum über Mörderbestie
Den Angaben eines Pressesprechers des Londoner Instituts
Weitere Kostenlose Bücher