Meerestochter
sah, würde überleben. Niemand, der so nahe kam, konnte entkommen.
«Ach, Rose.» Ondra spürte die Tränen, ihre sinnlosen Nixentränen, wieder einmal in sich aufsteigen. Sie drückte die kalte, ein wenig faltige Hand von Adrians Tante. Mehr war nicht zu sagen.
«Ich kenne euer Geheimnis», sagte Rose. «Sie wissen es, wir würden es nicht verbergen können. Sie werden auch mich haben wollen.»
«Für Adrian?», fragte Ondra, zum ersten Mal im Zweifel, ob sie das Richtige tat.
Rose lächelte sie an. «Ich habe auf diesen Moment mein Leben lang gewartet», sagte sie. Was sie nicht sagte, war, dass sie nicht damit gerechnet hatte, dass es gleichzeitig ihr letzter Moment sein würde. Aber manchmal konnte man sich die Dinge nicht aussuchen. Träume erfüllten sich oft auf eigenwillige Weise.
«Bist du sicher?» Ondra war noch immer unschlüssig.
«Nun, mein Liebes. Ich schätze, mein Schicksal liegt nicht in meiner Hand. Das hat es wohl niemals wirklich getan, seit Jonas an meinen Strand gespült wurde.» Sie drückte Ondras Hand noch ein wenig fester. «Und wer weiß, vielleicht ist es ja wie in der Geschichte vom biblischen Jonas, und dahinter verbirgt sich so etwas wie ein göttlicher Plan.»
«Oh nein», entfuhr es Ondra. Sie hatte bisher keine Wut empfunden. Aber angesichts der Gefahr, in der die unschuldige Rose schwebte, Rose, die keine Grenze übertreten hatte und nichts anderes getan hatte, als sich in jemanden zu verlieben, der ihr in den Schoß gespült worden war, ihn zu beschützen und ihm ein Leben lang treu zu sein, angesichts dieser Ungerechtigkeit fand sie die Wut in sich, die ihr gefehlt hatte, um den Mut für den letzten Schritt aufzubringen. Sie schnaubte. «Das ist nur ein Plan meines verbohrten Vaters.»
Sie räusperte sich und erhob die Stimme. «Also gut, bringen wir es hinter uns.»
Als hätte die Wand nur auf ein Zeichen gewartet, setzte sie sich in Bewegung. Das Grün begann zu strudeln und in sich zu kreisen. Es dehnte und beulte sich, und es war, als drohe eine Haut zu platzen, aus der heraus die Flut dann über sie hereinbrechen würde.
Unwillkürlich schrie Rose auf und legte den Arm um Ondra, als könnte sie sie angesichts der überwältigenden Massen, die über ihnen hingen, noch irgendwie beschützen. «Wo kommt nur all das Wasser her?», fragte sie, nun doch ein wenig verzagt.
«Von gar nicht weit her», erwiderte Ondra. «Die Welle geht durch die Meere hindurch, sie ist reine Energie. Wasser, Fische, wir, alles bleibt an seinem Platz, und sie zieht weiter. Erst am Ziel baut sie sich auf.»
«Aber woher kommt diese Energie?»
«Morningstar würde sagen, aus der Verschiebung der Plattentektonik, aus Erdbeben, Vulkanausbrüchen. Aus der Erde.» Ondra neigte den Kopf. Sie nahm Roses Hand und legte sie auf ihre Brust, dort, wo ihr Herz schlug. «Ich würde sagen, aus unserer Seele. Und aus der Wut, die in uns lebt.»
Rose spürte den unruhigen Schlag von Ondras Herz und machte große Augen. «Ihr alle gebt ihr einen Impuls mit, gebt ihr, was ihr fühlt», flüsterte sie und schüttelte den Kopf. «Dass ihr uns so sehr hasst.»
«Es tut mir leid.» Ondra erwiderte Roses beschützende Geste und legte ihr den Arm um die Taille. So standen sie da, während die Wand sich über sie neigte, als wollte sie sie begutachten und dann verschlingen.
Sie wogte und formte sich noch immer um und um, wuchs und senkte sich, als ringe sie mit sich selber. Schlieren von größerer Schwere wurden in ihrem Inneren sichtbar, wölbten sich auf und sanken wieder. Langsam formte sich, was unformbar schien.
Ondra hielt es nicht mehr aus, sie streckte die Hand aus und legte vorsichtig die Fingerkuppen auf die äußerste Haut des Wassers, die sich unter der Berührung kräuselte und Ringe aus weißer Gischt bildete. Ondra schloss die Augen. Sie lauschte auf ihren Herzschlag, synchronisierte ihn mit dem Wogen der Energie, die sie im Wasser spürte, und sammelte all ihre Kraft. Ein mächtiger Pulsschlag, kräftiger als alle zuvor, ließ ihren Körper erbeben. Sie hatte die Trommel geschlagen, den Handschuh geworfen, ihre geringe Kraft gegen seine gestellt. Und nun: Würde er lachen? Würde er sie zerschmettern? In exakt dieser Reihenfolge?
Und das Meer antwortete. Es tat sich etwas auf wie ein Spalt. Eine Hand wurde sichtbar, ein Kopf, gläsern zunächst und grün wie das Meer.
«Hallo», sagte Ondra. «Hallo, Papa.»
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42. Kapitel
Ehe Knightley reagieren konnte, stieß Morgan
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