Meerestochter
noch aus der Ferne. Würde sie ihm doch nur fernbleiben!
Morningstar sog die friedvolle, heimelige Atmosphäre des Raumes ein und fasste einen Entschluss. Er würde, zum ersten Mal in seinem Leben, seinem Gefühl vertrauen. Seinem Gefühl, das ihm sagte, dass diese Frau nichts Unrechtes tat oder dachte. Und dass sie die Richtige für ihn war. Er hatte es gespürt, schon damals, vor über zehn Jahren, als er sie so verloren vor dem Kaffeeautomaten hatte stehen sehen, in diesem traurigen, heruntergekommenen Warteraum, in dem nur Verzweifelte sich aufhielten. Sie hatte, obwohl auch sie verzweifelt war, eine andere Ausstrahlung gehabt. Sie besaß etwas, das er noch bei niemandem sonst gespürt hatte. Damals hatte er sie nur einen Moment betrachtet, sich dann abgewandt, die Schultern gezuckt, um den verwirrenden Eindruck abzuschütteln, und war in sein eigenes Leben zurückgekehrt. Er hatte das Kreuz seines Alltags wieder auf sich genommen, das seiner Ehe, von der er im Inneren wusste, dass sie ein Fehler und ein Unglück war, und das seines Berufs. Es war ganz leicht gewesen, nach den ersten Schritten. Das Gefühl, hartnäckig, aber leise, hatte ihn nicht am Davongehen gehindert und dann nach und nach wieder verlassen. Nur minutenweise war es hier und da, in nachdenklichen Momenten, an den unpassendsten Orten, wiederaufgetaucht. Nur als kurze Frage: Was wäre gewesen, wenn …? Doch das Gefühl hatte sich jedes Mal wieder abschütteln lassen. Diesmal würde er es bewahren; er würde Rose nicht wieder aus seinem Leben gleiten lassen.
Diesmal würde er sie festhalten. Und wenn das hieß, dass er mit dem Meer um sie kämpfen musste. Morningstar stand auf. Sein Anzug spannte über seiner Haut. Er war nass bis aufs Hemd, und er fror. Weder sah er aus wie ein Held, noch fühlte er sich so. Aber er würde sein Bestes geben. «Ich brauche dich wohl nicht zu fragen, ob du einen Regenschirm hast», sagte er.
«Miau», machte der Kater und schüttelte sich die Wassertropfen aus dem Fell.
Morningstar lächelte. Dann ging er hinaus. Er konnte sich nur einen Ort vorstellen, an dem Rose sein konnte.
Ondra kam nur langsam voran, der scharfe Felsen schnitt in ihre Schuhe. Oft musste sie klettern, unter Zuhilfenahme beider Hände, dann wieder drohte sie in einem Sumpf aus Sand und feuchtem Tang zu versinken. Hier also hatte sie gelebt. Manche Kuppe, manche Schlucht erkannte sie sogar wieder. Aber wie anders sah jetzt alles aus! Ohne das Wasser, das alles umfloss und leicht machte und trug und sogar den fallenden Steinen die Geschwindigkeit nahm. Hier hatte sie sich getummelt, und das Wasser hatte ihre Haut gestreichelt, war um sie herumgeflossen, durch sie hindurch, hatte ihr seine Energie vermittelt und die Impulse ihrer eigenen Energie empfangen. Jetzt kam sie nur mit Mühe vorwärts.
Ondra drehte sich um und schaute zurück zur Küste. Noch einmal war sie weit draußen, war sie in der Tiefe. Aber keine Woge würde sie diesmal packen und tragen, wenn sie es wollte, damit sie sich badete in dem Strudel aus Luftblasen, der entstand, wenn die Welle sich an der Küste brach. Wie oft hatte sie das früher getan, schreiend vor Glück und dem Gefühl, wahrhaft am Leben zu sein. Wenn die Welle diesmal kam, würde sie Ondra mit sich nehmen wie einen Gegenstand, um sie an den Felsen zu zerschmettern. Sie war jetzt ein Mensch. Menschen gingen so leicht kaputt.
Als ob die Wasserwand bemerkt hätte, wie mühevoll Ondras Vordringen sich gestaltete in diesem Grenzgebiet zwischen zwei Welten, kam sie ihr entgegen. Schob sich höher und höher vor den Himmel und schnitt den Horizont ab. Wie durch ein Wunder hielt sie an, als sie dicht vor Ondra angekommen war.
Das Mädchen legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die grüne, gläsern wirkende Mauer, die sich vor ihr aufgebaut hatte. Im Augenblick stand sie ruhig und starr. Hinter ihrer durchsichtigen Oberfläche regte sich nichts.
Ondra aber wusste, dass dieser Eindruck trog. Sie öffnete den Mund. Da spürte sie eine Berührung an ihrer Hand. Zum ersten Mal, seit sie ihre Reise hier heraus angetreten hatte, erschrak Ondra. «Rose!» Sie flüsterte nur.
Ja, es war Rose Ames, die neben ihr stand. Und der Anblick machte Ondra traurig. Sie wollte nicht, dass Rose etwas zustieß. Sie wollte, dass Rose lebte, so wie Adrian weiterleben sollte. Rose hatte sie gemocht und war gut zu ihr gewesen. Rose war ein Teil von Adrians Welt. Um die zu erhalten, stand sie hier. Aber niemand, der das hier
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