Meerestochter
Tee, das bittere Vitamin-C-Pulver, das zu jeder Krankheit unweigerlich dazugehörte. An die sanfte Hitze des Fiebers, an die Stimme und die Hand auf seiner Stirn. Er war sechs gewesen damals, und von einem Baum gefallen. Er konnte das Brennen an seinen Knien noch fühlen. Dann erschrak er.
Mit sechs hatte er noch gar nicht bei Rose gelebt. Mit sechs war er ein ganz normaler, glücklicher Junge gewesen, mit einer Mutter und einem Vater und einem stinknormalen Leben, zumindest war ihm das so erzählt worden. Er hatte nicht hier gewohnt. Adrian sah sich um. Er sah die Szene aber doch vor sich! Er konnte sich an jede Einzelheit erinnern. Auch, wie verloren und geborgen zugleich er sich in diesem Bett gefühlt hatte, das damals noch viel zu groß für ihn gewesen war. War es in den Ferien gewesen? Aber hier oben gab es doch gar keine Bäume! Spielte seine Erinnerung ihm einen Streich? Adrian setzte sich, das Buch in der Hand. Gedankenverloren schlug er es auf.
Wenn es nicht Rose gewesen war, die ihm damals vorgelesen hatte – das war die Erkenntnis, die ihm plötzlich heiß werden ließ, so heiß, dass sein Gesicht glühte –, dann musste es seine Mutter gewesen sein. Die Mutter, an die er keinerlei Erinnerung mehr besaß. Seine Hände zitterten, als er versuchte, sich zu konzentrieren und sich die Szene, die ihm eben so deutlich vor Augen gestanden hatte, erneut ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte neben dem Bett gesessen, ganz sicher. Wie hatte sie ausgesehen? Wie war sie gewesen? Er schloss die Augen, um alles noch einmal zu durchleben. Aber es blieb bei den Details, die er schon kannte. Die Lampe schimmerte warm. Er erinnerte sich an ein Paar Knie, das ruhige Rascheln beim Umblättern, die Kälte des Lakens im unteren Teil des Bettes, wenn er seine Füße dorthin ausstreckte. Mehr nicht.
Und die Stimme, die ihm die Geschichte vortrug, war die Stimme von Rose.
Enttäuscht biss Adrian sich auf die Lippe. Sie hatte ihm die Geschichte inzwischen so oft vorgelesen, dass die Erinnerung an jene andere, ältere Szene verwischt worden war. Er konnte sie nicht mehr greifen.
«Tja», sagte er laut, um der Frustration Herr zu werden. Er strich mit der Hand über die Bilder. Die waren sicher von Rose, das wusste er. Auf eingelegten Blättern hatte sie die Geschichte einmal für ihn gezeichnet. Weil er gut im Basteln war, hatte er die Bogen später mit eingebunden. Da waren sie nun, ein wenig steif, nicht mehr nach Farbe und Klebstoff riechend, sondern nach Staub, aber so leuchtend wie eh und je. Manchmal hatte er sich dafür geschämt, dass ihm die Abbildungen so gut gefielen von dem Nixlein, das, von seinen hüftlangen Haaren umwogt, durch eine fantastische Landschaft aus Tang und Felsen schwamm, mit großen schwarzen Augen und Perlenschnüren im Haar. So etwas war doch was für Mädchen! Adrian hatte es Pete und Ned und Tom seinerzeit tunlichst verschwiegen. Aber genau so sah das Mädchen seiner Träume aus, schlank, dunkel, zart, ein wenig einsam und verloren. Genau so, wie er selbst sich immer gefühlt hatte. Was sollte es, das war alles ziemlich lange her. Einmal, da hatte er kurz gedacht, er hätte sie gesehen. Aber sie war verschwunden und er vielleicht schuld daran. Vorbei. Adrian blätterte schneller.
Da fiel ein Bogen Papier zwischen den Seiten heraus. War das etwa einer seiner eigenen, zum Glück verjährten Reimversuche? Die hatte er nicht nur den Jungs verschwiegen, auch seine Tante wusste glücklicherweise nichts davon. Er hob das Blatt auf. Eventuell konnte er Maud damit amüsieren. Sie würde lachen, aber das wäre ja schon etwas. Sie würden gemeinsam lachen, wenn er mittäte.
«Meine Liebste», las er laut und fuhr dann unwillkürlich stumm mit der Lektüre fort. Das hier war nicht von ihm. Und es war für niemandes Ohren bestimmt. Es war von jemandem geschrieben worden, den er nicht kannte, der aber leidenschaftlich geliebt zu haben schien, wenn man seinen Beteuerungen glauben durfte. Adrian bekam rote Ohren, während er sie las, und sein Herz schlug unwillkürlich schneller, obwohl er mit keinem Satz gemeint war. Der Brief trug kein Datum und nur eine unleserliche Unterschrift. Aber er besaß Gültigkeit in jedem einzelnen Wort.
Mein Einziges, meine Rose, vertrau mir. Glaub an mich und bleibe ruhig. Es wird alles gut werden. Das ist ein Versprechen, das ich dir mit ganzer Seele gebe. Wir müssen uns nicht fürchten! Liebe du mich nur weiter und sprich zu niemandem davon, so wie auch ich schweige. Ich
Weitere Kostenlose Bücher